Marco Camenisch: Interview in “Südostschweiz”

«Im Untergrund lebte ich die Freiheit»

Marco Camenisch sitzt seit 23 Jahren ohne Unterbruch im Gefängnis. 2018 müsste der als «Öko-Terrorist» bekannte Bündner definitiv freikommen. Im Gespräch äussert er sich über den politischen Kampf und seine Zukunftsabsichten.

Mit Marco Camenisch sprach Jürg Wirth

Marco Camenisch, warum sind Sie im Gefängnis?

Aus politischen Gründen, aus Gründen des bewaffneten, politischen Kampfes.

Was verstehen Sie unter politischem Kampf?

Politischer Kampf bedeutet, sich für soziale Anliegen radikal, revolutionär einzusetzen.

1981 wurden Sie wegen Sprengstoff- und Vermögensdelikten zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Hätten Sie bei einer geringeren Strafe gleich weiter- gemacht?

Das ist im Nachhinein schwierig zu beurteilen, aber wahrscheinlich schon. Dann wäre ich nach dem Knast in anderen Umfeldern gelandet, zum Beispiel in Zürich, Basel oder im Ausland. Was sich dort entwickelt hätte, weiss man nicht. Vielleicht hätte ich mich auch irgendwann im Politdiskussionssumpf verloren oder wäre auf anderen Ebenen aktiv geworden oder vielleicht auch gar nicht mehr, weil ich Angst gehabt hätte.

«Das Gefängnis hat meine Haltung noch verstärkt»

Die Aktion war mit all ihren Konsequenzen geplant?

Ich hab mir schon überlegt, was passiert, wenn… Ich wollte mich aus dem Bündner Mief herauskatapul tieren, weil ich dort keine Chance für eine radikalere Organisierung gesehen habe.

Die Bündner waren zu träge?

Es waren nicht mal nur die Bündner, das ist falsch, es war mein engeres Umfeld. Da wollte ich raus, um mich mit den  Leuten zu vereinen, die zu mir gehören wie ich zu ihnen gehöre.

Der Anschlag war das Eintrittsbillett in die anarchistische Szene?

Das wäre es gewesen. Denn wenn es schlecht läuft, lande ich im Knast, habe dann aber das «Pedigree», quasi den Hintergrund oder Stammbaum. Und das Gefängnis hat meine kritische Haltung dem Staat gegenüber noch verstärkt.

Was wäre denn Ihre Vorstellung des idealen Staates?

Du glaubst noch an gewisse Prinzipien, die verletzt werden, und dagegen kämpfst du.

Wofür? Was wäre die Alternative?

Es geht nicht so um Alternativen. Diese Dinge muss man sich selber überlegen, gemeinsam mit anderen. Ich bin Anarchist, und als Anarchist handelt man nicht nach Programm, sondern es ist eine individuelle und kollektive Sache.

Denken Sie, dass heute eine Revolution noch möglich wäre?

Ja.

Oder gab es schon bessere Zeiten dafür?

Anscheinend nicht, sonst hätten wir einen postrevolutionären Zustand von Freiheit, Gerechtigkeit und eine saubere Umwelt. Und die Menschen würden es schaffen, friedlich zusammenzuleben.

Das wird kaum je eintreffen?

Das ist ein grundsätzliches Problem. Wenn du nicht ans Gute im Menschen glaubst, kannst du keine radikalen Veränderungen ins Auge fassen, kannst nicht mitmachen.

Sie glauben an das Gute im Menschen?

Ja. Ich glaube, dass eine Grund vernunft herstellbar ist und ein anständiges gegenseitiges Benehmen. Zum Beispiel teilen anstatt wegnehmen.

Sie sagen, Sie seien ein politischer Gefangener. Doch es gab auch die Geschichte mit dem Zöllner.

Eventuelle Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften sind eine logische Folge des Kampfes, auch wenn man die nicht unbedingt sucht.

«Der Zöllner ist nicht mein Toter»

Das heisst, für den politischen Kampf nehmen Sie Auseinandersetzungen mit Staatsvertretern in Kauf?

Ja, eigentlich wäre das gerechtfertigt.

Deshalb der Angriff auf den Zöllner?

Nein, der Zöllner, das ist nicht mein Toter. Den haben sie mir auf eine fiese Art und Weise untergejubelt.

Das Verfahren führte damals Claudia Wiederkehr, die Tochter des ehemaligen NOK- und Axpo-Chefs.

Ja, genau. Aber selbstverständlich war sie nicht befangen…

Wie lautet denn Ihre Version des Tathergangs?

Keine Ahnung. So viel ich aus den Protokollen mitbekommen habe, stelle ich mir einen Verlauf vor, bei dem ein gut ausgebildeter Kurzwaffenträger involviert war. Das war ich zwar auch, aber das hätte genauso gut ein ehemaliger Polizist oder Soldat gewesen sein können. Ich frage mich immer wieder, ob sie da nicht etwas vertuschen wollten.

«Der Polizist hatte keine Ahnung»

Aber Sie wurden in einem Indizienprozess des Mordes schuldig gesprochen.

Zu Unrecht. Beispielsweise wurden die Projektile als Beweismaterial unsorgfältig behandelt, wie unser damaliger Zeuge, ein Abteilungsleiter des forensischen Dienstes in Lausanne, bestätigte. Als mich die italienischen Carabinieri 1991 verhafteten, wäre es logisch gewesen, meine Waffen sofort zu untersuchen und die Munition mit derjenigen beim Zöllner zu vergleichen. Doch die Italiener haben gesagt, dass es nicht genügend Spuren für einen Vergleich gäbe. Und der wissenschaftliche Dienst in Italien ist sicher nicht schlechter als jener in Zürich. Die Projektile wurden per Post zwischen der Schweiz und Italien hin- und hergeschickt, und vor Gericht hatte der Polizist keine Ahnung, weil es darüber kein Protokoll und keinen Aktennachweis gab. Als die Ermittlungen 2007 abgeschlossen waren, sass ich im vorzeitigen Vollzug in der Strafanstalt Thorberg. Und auf einmal hiess es, dass die Schweizer jetzt von den Italienern Waffe und Munition bekommen hätten und diese übereinstimmten mit denjenigen, die den Zöllner töteten. Das war dann rund 18 Jahre, nachdem der Zöllner getötet wurde.

Für den Mord am Zöllner wurden Sie zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Von den letzten 30 Jahren verbrachten sie 20 im Gefängnis und zehn in Freiheit. Wie war es für Sie, in Freiheit zu sein?

Das war die maximale und einzige Freiheit die du haben kannst…

Weil man nirgends angemeldet ist und keine Steuern bezahlen muss?

Ja, auch. Trotzdem brauchst du den ganzen Scheiss wie Ausweise und so.

Dann lebten Sie in Italien? 

Ich lebte ein wenig überall, aber in Italien war ich wiederholt und in Carrara war ich am längsten.

Dort haben Sie Heldenstatus erreicht.

Ja, denn das war nach dem Ende der Brigate Rosse, und zudem vertrat ich die ökologische Frage radikal.. Die Leute haben mich gekannt und allzuviel Scheisse habe ich anscheinend nicht hinterlassen, sonst hätte ich die internationalen solidarischen Beziehungen, wie sie heute bestehen, nicht.

Geht man im Untergrund auch in den Ausgang oder macht man da den ganzen Tag politischen Kampf? 

Wenn du im Untergrund bist, dann bist du am Arbeiten und davon lebst du. Und wenn du viel Geld holst, ist das immer eine kollektive Sache, keine Private…

… viel Geld holen beim Arbeiten?

Beim Arbeiten holt man ja nie viel Geld, das wissen Sie selberauch. Wir nannten das «enteignen».

Lebt man dann intensiver, wenn man nie weiss, wann einendie Polizei erwischt?

Man lebt intensiver, aber es ist vor allem ein Stress, an den man sich gewöhnen muss. Doch mit der Zeit erfährst du eine praktischere Sicherheit und deine Sinne werden geschärft.

Die anderen 20 Jahre verbrachten Sie im Gefängnis. Wie übersteht man das?

Du hast einen Grund weshalb du hier bist, du hast einen Hintergrund und du hast viel Solidarität, du gehörst zu jemandem. Und das ist sehr wichtig.

«Ich frage mich, was ich draussen antreffen werde»

René Moser, Ihr Kumpan aus früheren Zeiten, sagte, dass Sie Ihre Militanz nicht aufgeben könnten, weil von dort die Überlebenskraft käme. Auch Ihre Mutter sagte einst, wenn er widerrufen würde, hätten sie ihn gebrochen.

Ich weiss nicht, was dann passieren würde, denn das ist gar kein Thema. Das wäre, wie wenn ich sagen würde, ich heisse nicht Camenisch und bin kein Bündner.

Das ist Ihre Bestimmung.

Bestimmung ist als Thema gefährlich. Das mit dem Bewusstsein und der Entwicklung, die mit der radikalen Position einher geht, ist oft auch eine Frage des Zufalls.

Wie nimmt man die Veränderungen in der Welt wahr, wenn man 20 Jahre im Gefängnis sitzt?

Das ist tatsächlich schwierig. Und irgendwie habe ich so einen kleinen Bammel und frage mich, was ich da draussen antreffen werde.

Sie haben zwar Kontakt mit der Szene, wissen aber eigentlich nicht wie Chur aussieht?

Ja, denn solche Veränderungen bekommt man nicht mit. Deshalb schaue ich am TV beispielsweise die Tour de Suisse.

Sie schauen Tour de Suisse, damit Sie sehen, wie sich die Schweiz verändert?

Ja klar. Aber auch meine Mutter hat mir erzählt, wie sich die Welt verändert hat. Zum Beispiel, dass die Wohnungen über  und neben ihrer Wohnung mehr oder weniger Bordelle waren. Und dann bemerkt man die Veränderungen. Als ich noch dort gewohnt habe, hätte ich mir das nie vorstellen können.

Spätestens 2018 kommen Sie frei.

Schon 2012 hätte ich frei kommen sollen.

Das wäre nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe gewesen.

Ja, aber das ist ja nicht obligatorisch.

Ein Grund, warum man Sie nicht rauslassen wollte, ist der politische Kampf, den Sie weiterhin führen.

Da machen Sie einen Fehler. Als Gefangener kann ich reden und kämpfen gegen die Dinge von draussen. Mache ich das aus dem Gefängnis, hat das eine grosse Bedeutung und hohe Resonanz. Wäre ich draussen, wäre meine Bedeutung viel geringer.

Um frei zu kommen, müssen Sie belegen, dass Sie niemanden zum bewaffneten Kampf anstiften und selber nicht aktiv werden.

Das kann ich nur erklären, das kann ich nicht belegen. Ich habe schon lange eine Erklärung abgegeben, dass der bewaffnete Kampf für mich keine Perspektive mehr ist.

Das ist so?

Das ist so, aus Altersgründen. Und auch von meiner Figur her. Wenn sie mir im Knast andauernd neue Ermittlungsverfahren ankreiden, wie stehe ich dann erst draussen unter Kontrolle? Nur schon deswegen wäre es unverantwortlich noch mal selber aktiv zu werden.

Also Sind Sie doch etwas altersmilde?

Draussen würde ich wahrscheinlich politische Arbeit machen oder einen Bauernhof führen, das ist auch eine starke politische Aussage. Das Problem ist auch, dass sie mich nicht rauslassen, weil ich zu viele soziale Kontakte habe. Andere lassen sie nicht raus, weil sie gar keine sozialen Kontakte mehr haben.

Aber Sie freuen sich auf die Entlassung?

Ja. Freuen, freuen, freuen. Auf eine Art eben. Die Angst ist da. Du kommst raus und sagst zu dir: Schau mal, was du erreicht hast – nichts. Es ist alles immer noch gleich.

Solche Gedanken macht man sich.

Ja, das ist klar.

«Ich hatte immer andere Frauen»

Aber das Ziel ist schon raus zu kommen?

Ich kann rauskommen oder auch nicht. Aufs nicht-rauskommen muss ich mich nicht vorbereiten, das kenne ich.

Das wäre dann Verwahrung.

Ja klar, obwohl es schwierig ist, aber vielleicht versuchen sie es. Es geht auch um ihre Verantwortung. Ich sollte ja 2018 rauskommen, also müsste man langsam mit angewöhnen beginnen. Doch die Verantwortlichen sagen nicht, dass sie mich verwahren wollen, sondern sie sagen, wir übernehmen die Verantwortung nicht für eine vorzeitige Entlassung. Wenn ich dann 2018 Knall auf Fall rauskomme, tragen sie keine Verantwortung mehr. Das ist die Optik der Vollzugsbehörden.

Ihr Anwalt hat beim Bundesgericht Beschwerde eingereicht gegen die verweigerte vorzeitige Entlassung, das Urteil steht noch aus.

Ja, aber davon erwarte ich eigentlich nichts. Wenn es positiv rauskommt, umso besser, aber grosse Hoffnungen setze ich nicht darin, sonst werden die nur enttäuscht.

Also läuft es darauf hinaus, dass Sie 2018 Knall auf Fall rauskommen?

Knall auf Fall wahrscheinlich nicht. Wenn sie sich damit abfinden müssen, dass eine Verwahrung unmöglich ist,  müssen sie fast ein halbes Jahr vorher mit Hafterleichterung beginnen, damit sie nachher nicht beschuldigt werden, zu wenig getan zu haben. Wenn sie hingegen ernsthaft die Verwahrung anstreben, kann es bis zum Entlassungszeitpunkt gehen und allenfalls noch darüber hinaus. Mit einer Sicherheitshaft, bis ein Gericht entschieden hat.

Sie möchten schon lieber raus.

Ja klar, claro que si.

Sie haben draussen viele Kontakte, aber wie steht es mit Familie oder Beziehungen? Sie waren auch mal verheiratet.

Das war eine meiner Ehefrauen. Jetzt telefonieren wir einfach.

Es gibt auch noch andere Frauen?

Ich hatte immer andere Frauen.

Wegen des Charmes und des Status?

Ich glaube nicht, aber wenn ich rauskomme ist es sicher anders. Ich habe durchaus einfachen Zugang zur Frauenwelt, aber ich hoffe nicht, dass dies wegen meines Status ist, sondern wegen meines Verhaltens. Ich bin ein Gefühlsmensch und kann mich schnell verlieben, und wenn ich jemanden gern habe, hab ich keine Probleme, das auszudrücken.

Wann haben Sie sich letztmals verliebt?

Das ist noch nicht so lange her.

Marco Camenisch…

… kam am 21. Januar 1952 in Campocologno im Puschlav zur Welt und erlangte schweizweite Bekanntheit als «Öko-Terrorist», weil er einen Sprengstoffanschlag auf einen Strommasten und eine Stromverteilstation der NOK (die heutige Axpo) verübte. 1981 wurde er deswegen zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, floh aber bereits im Dezember 1981 zusammen mit der Alfa-Bande aus der Strafanstalt Regensdorf. Bei der Flucht wurde ein Wärter erschossen, jedoch nicht von Camenisch. Darauf lebte Camenisch im Untergrund, bis er 1991 in Italien verhaftet wurde. Am 3. September 1989 wurde er in Brusio gesichtet, als er das Grab seines verstorbenen Vaters besuchen wollte. Am selben Tag wurde ein Zöllner erschossen, für diesen Mord wurde  Camenisch später in einem Indizienprozess verurteilt. Am 5. November 1991 wurde Camenisch in Italien verhaftet und zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Am 18. April 2002 wurde er an die Schweiz ausgeliefert und am 13. März 2007 wegen des Mordes am Grenzwächter zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.

 

Südostschweiz, 12.07.2014: http://www.suedostschweiz.ch/zeitung/marco-camenisch-%E2%80%A6