Wir blicken auf ein blutiges Jahr zurück. Das Jahr 2015 war eines der brutalsten und blutigsten Jahre der neueren Geschichte der Türkei. Der Vernichtungsterror, die faschistischen Angriffe, Verhaftungswellen und Mordkomplotte richteten sich nicht gegen eine Personengruppe, nicht gegen eine politische Orientierung, sondern gegen jede Opposition, gegen jede sich artikulierende Minderheit.
Die bewusstesten Kräfte, die sich dem offenen Kampf gegen das kolonialistische faschistische Erdoğan-Regime stellen, sehen sich mit den offenen und verdeckten Mordkommandos, deren Ziel die physisches Vernichtung der Opposition und die Einschüchterung der Bevölkerung ist, konfrontiert. Nicht zufällig sind es in erster Linie die kurdische Freiheitsbewegung und die sozialistischen Kräfte, die im Fadenkreuz der Mordkommandos stehen und allein im vergangenen Jahr zu hunderten ermordet wurden. Durch gezielte Bombenanschläge wie in Amed (Diyarbakır), Pirsus (Suruç) und Ankara, durch extralegale Hinrichtungen wie die fünf Revolutionärinnen in Istanbul, durch den Vernichtungsterror gegen das kurdische Volk in Nordkurdistan.
In wenigen Monaten haben die Kräfte des Palastes, um den faschistischen Diktator Erdogan, mit einer Strategie der Spannung, des Terrors und des offenen Vernichtungskrieges eine gewachsene Hoffnung auf Frieden und Demokratie in der Türkei und Kurdistan zunichte gemacht und das Bewusstsein von Millionen von Menschen vergiftet. Mit dem „Verhandlungsprozess“ zwischen der PKK und der türkischen Regierung, mit dem Juni-Aufstand (Gezi/Taksim), mit dem politischen Kampf der vereinten demokratischen Front, der Demokratischen Partei der Völker (HDP), konnte nicht nur der Chauvinismus der konservativ-islamisch geprägten Bevölkerungsschichten aufgebrochen werden, sondern eine Aufbruchsstimmung mit einer konkreten Perspektive, dem Sturz der AKP-Diktatur und der Demokratisierung der Türkei, schienen in greifbare Nähe gerückt zu sein. Um die dadurch sich verschärfende Regimekrise zu überstehen, griff die herrschende Klasse, mit ihrem „Sultan“ Erdogan an der Spitze, zu einem klassischen Mittel: Krieg und Vernichtungsterror. Doch ihre Rechnung ging im Ganzen nicht auf. Zwar ist es ihnen gelungen an alte Ressentiments anzuknüpfen, die reaktionärsten Teile der Gesellschaft zu faschistischen Mobs auf den Straßen zu Mobilisieren und mit Terror, Betrug und Rassismus die Bevölkerung zu spalten und diese künstliche Spaltung zu betonieren, jedoch der Widerstand der demokratischen, sozialistischen und kurdisch patriotischen Kräfte konnte nicht gestoppt werden. Ganz im Gegenteil erleben wir heute neue Dimensionen des Widerstandes und des Strebens nach Freiheit und Demokratie. Mit ihrem Terror drängen sie immer mehr Menschen in den Widerstand gegen ihr System.
Doch was hat das alles mit uns in Deutschland zu tun?
Deutschland und die Türkei sind auf den unterschiedlichsten Ebenen mit einander Verbunden. Sei es politisch, militärisch, wirtschaftlich. Zudem leben heute mehrere Millionen Menschen die selber oder deren Familien aus dem Staatsgebiet der Türkei stammen in Deutschland. Die Türkei ist zudem eines der beliebtesten Urlaubsziele für Deutsche. Deutschland ist auch der wichtigste Handelspartner der Türkei. Allein aus diesen und vielen weiteren Gründen hat die herrschende Klasse in Deutschland ein reges Interesse an den Entwicklungen in der Türkei. Auf welcher Seite der Entwicklungen sie dabei steht, hat sie im vergangenen Jahr wieder mehr als deutlich gezeigt. Am deutlichsten wurde diese Position wohl als Angela Merkel Mitte Oktober zu einem Staatsbesuch in die Türkei gereist ist. Merkel hat damit zunächst einmal ein Novum begangen, mit bürgerlichen Etiketten gebrochen. Sie hat gerade einmal zwei Wochen vor vorgezogenen Parlamentswahlen ein politisch äußerst instabiles Land besucht, um sich mit dem, selbst in ihren eigenen Kreisen als äußerst autoritär geltenden, allein herrschendem AKP-Regime zu treffen, welches zudem bei den vorher stattgefundenen Wahlen seine Regierungsmehrheit verloren hatte. Um es kurz zusammen zu fassen, Merkel hat hier ganz objektiv Wahlkampf für die AKP und das Erdogan-Regime betrieben. Sie hat mit ihrem Besuch den Terror des türkischen Staates gebilligt und ihm weitere Unterstützung und Wohlwollen zugesichert. Dieser Besuch kommt einem Freifahrtschein für Menschenrechtsverletzungen und Staatsterror gleich. Diese Tendenz bestätigt sich durch den Fakt, dass die EU ihren jährlichen Bericht zur Entwicklung der Türkei, in dem sie nicht drumherum kam, massive Verschlechterungen in Fragen der Menschenrechte und Meinungsfreiheit zu konstatieren, bis nach den Wahlen in der Türkei zurück hielt.
Bei diesem Besuch und den damit einhergegangenen Treffen der Türkei mit EU-Vertretern in Brüssel wurde der sogenannte „Merkel Plan“ konkretisiert und beschlossen. Er bindet die Türkei offiziell in die Festung Europa ein und soll sie zum Schwert Europas gegen Flüchtlinge machen. Für ihre Dienste wird die Türkei mit drei Millarden Euro geschmiert, mit denen sie ihre Grenzen zu Europa hermetisch abriegeln und Flüchtlinge in Internierungslager einsperren soll. Zudem verpflichtet sich die Türkei Flüchtlinge die es schaffen von dort aus in die EU einzureisen wieder zurück zu nehmen. Im Gegenzug verspricht die EU Visa freies Reisen bzw. Visa Erleichterungen für türkische Staatsbürger. Die Türkei soll zudem als „sicheres Herkunftsland“ erklärt werden, was es Flüchtlingen aus der Türkei faktisch unmöglich machen würde in Deutschland Asyl zu bekommen. Ein Land als „sicher“ zu erklären in dem die Regierung einen offenen Krieg gegen einen großen Teil der eigenen Bevölkerung führt ist besonders absurd. Die im Zuge der Gespräche neu angefachten Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU sind bei all dem noch der unbedeutendste Aspekt.
Das dies alles kein Alleingang von Merkel war und ist zeigen die Aussagen von anderen deutschen Politikern. So erklärte Innenminister Thomas de Maizière: „Wir können nicht immer nur auf dem moralischen Sockel sitzen und alle Welt belehren über Menschenrechtszustände.“ Auch die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi wies jede Kritik an Merkels Türkeibesuch zurück. „Auch wenn die Voraussetzungen außenpolitisch und in der türkischen Innenpolitik höchst schwierig sind, führt kein Weg an der Zusammenarbeit mit der Türkei vorbei“.
Wir dürfen diese Zusammenarbeit jedoch nicht falsch interpretieren. Merkel ist nicht irgendein Handlanger Erdogans oder hat sich bettelnd seinen Forderungen gebeugt. Ganz im Gegenteil ist Merkel als Vertreterin der deutschen Bourgeoisie, an der Spitze der EU stehend, in die Türkei gereist um dort ihre eigenen Interessen zu vertreten und durchzusetzen.
Das Geschwafel deutscher Politiker die Türkei sei der „Schlüssel zur Lösung des Flüchtlingsproblems“ ist, selbst wenn man von den unmenschlichen Bedingungen unter denen Flüchtlinge in der Türkei leben müssen absieht, eine doppelte Farce, denn das Erdogan-Regime schafft selber die Ursachen dafür das Menschen fliehen müssen. Sie schafft diese Ursachen, in dem sie seit Jahren einer der engsten politischen, militärischen und logistischen Unterstützer des „Islamischen Staat“, Al Nusra und anderer islamistischer Terrororganisationen ist. Sie schafft diese Ursachen wenn sie hunderttausende Kurden in Nordkurdistan aus ihren Städten vertreibt und sie hält diese Ursachen aufrecht, in dem sie, die effektivsten Feinde der islamistischen Terrorgruppen, die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten und die mit ihnen verbundenen Kräfte angreift und Rojava, die demokratische Hoffnung des Mittleren Ostens, versucht zu vernichten.
Und genau dieses faschistische Regime welches jeden Tag Andersdenkende von seinen Sicherheitskräften erschießen lässt, dessen Präsident sich positiv auf das politische System Hitler-Deutschlands bezieht und große Sprünge macht ein ähnliches in der Türkei zu etablieren und in dem es die Herrschenden kaum noch für Notwendig erachten die falsche Maske der Demokratie aufrecht zu erhalten, ist ein guter Freund der deutschen Regierung und Bourgeoisie.
Als Jugendliche aus der Türkei, Kurdistan, Deutschland und anderen Teilen der Welt, sehen wir es als unsere Aufgabe an, dies alles nicht unkommentiert zu lassen. Wir wollen sowohl über den Krieg Erdogans gegen das kurdische Volk und die Repression gegen die revolutionäre Bewegung, als auch gegen die Komplizenschaft Deutschlands informieren, protestieren und uns organisieren. Wir werden weder die psychologischen und physischen Vernichtungsangriffe gegen die kurdische und sozialistische Freiheitsbewegung, noch die Konsolidierung des faschistischen AKP-Regimes durch die offizielle Einführung der Präsidialdiktatur hinnehmen. Nach dem Motto „Wenn nicht wir? Wer dann? Wenn nicht jetzt? Wann sonst?“ werden wir unseren Widerstand vergrößern, egal ob in Deutschland, Europa oder der Türkei und Kurdistan.
Verfasst von: Sozialistische Jugendzeitschrift Young Struggle.