Ciao Claude.

In der Nacht auf Sonntag, 12. März 2017, ist Claude Hentz gestorben. Claude Hentz war ein Rechtsanwalt in Zürich, der stets enorm solidarisch verschiedenste GenossInnen tatkräftig unterstützte. Claude war ein Genosse, dessen Politisierung mit der Zürcher Bewegung 1980 begann. Von Anfang an war er in verschiedenen Zusammenhängen aktiv, in denen es jeweils um das Verhältnis zwischen kämpfender Bewegung und der Klassenjustiz ging. Er prägte Strukturen wie das Anwaltskollektiv, baute das Pikett “Strafverteidigung” in Zürich auf und war ein Garant für eine klare politische Position in jeder juristischen Konfrontation. Wir werden ihn vermissen. Ciao Claude.


Gegen die Mühlen des Apparats

Interview: Heinz Nigg

Claude Hentz.
Geboren 1956 in St. Paul, Minnesota.
Arbeitete als Sekretär im Anwaltskollektiv Zürich und in dessen Rechtsauskunftsstelle.
Heute Rechtsanwalt in der Advokatur Gartenhof.

Mein Vater war Österreicher und stammte aus einer Familie von Berufsmilitärs. Er studierte Ingenieur. Im Krieg wurde er verletzt und verlor einen Arm. Dank seiner Sprachkenntnisse wurde er während des Kriegs von den Amis als Dolmetscher beschäftigt. Dann arbeitete er ein Leben lang als Manager für die amerikanische Firma 3M. Meine Mutter kommt aus einer streng katholischen Familie aus dem Wallis und wuchs im Tessin auf. Sie lernte meinen Vater in Zürich kennen, wo sie als kaufmännische Angestellte auf einer Bank arbeitete. Sie heirateten, zogen nach St. Paul, Minnesota, wo sich der Hauptsitz von 3M befindet, und hatten drei Kinder. Mit 27 erkrankte meine Mutter an Krebs, und wir kehrten mit ihr in die Schweiz zurück. Als sie starb, war ich gerade vier Jahre alt. Mein Vater heiratete wieder, und durch ein Entgegenkommen seiner Firma wurde er nach Europa versetzt, zuerst nach Basel, dann nach Lausanne, Wien und zuletzt nach Zürich.

Wie hattest du dich in Zürich eingelebt?
Wir wohnten zuerst in Seebach in einem modernen Wohnblock, umgeben von vielen Genossenschaftshäusern. Das war ein raueres soziales Umfeld als in Wien, wo ich die amerikanische Schule besuchte und ein von Jesuiten geführtes Knabeninternat. Nun musste ich mich wehren, mich prügeln und den Mädchen imponieren. Mit meinem österreichischen Akzent wurde ich als Ausländer angeschaut. Ich machte die fünfte und sechste Primarklasse in Seebach und ging ins Gymnasium Freudenberg. Das war im Jahr 1969 – während einer sehr aufmüpfigen Zeit! Ein Maturand wurde gerade von der Schule geschmissen. Es ging darum, dass sich die Schüler nicht politisch äussern durften – auf Wandzeitungen und in der Schülerzeitung. Auch wenn ich ein scheuer Erstklässler war, spürte ich diesen Nimbus von Frechheit und vom Sich-nicht-Einordnen. Bei den Lehrern hatte es rebellische Geister. Mein Spanischlehrer war zum Beispiel Fritz Zorn, der mit seinem Buch «Mars», einer schonungslosen Abrechnung mit dem Grossbürgertum, berühmt wurde.

Wie war das Klima in deiner Familie?
Die Frau hielt die Familie zusammen, und mein Vater brachte das Geld nach Hause. Meinem Vater waren Leistung und Karriere sehr wichtig. Was er von uns im Hause abverlangte, hat er auch selbst erbracht, obwohl ihm ein Arm fehlte. Er machte alles. Es war aber gegenüber uns Kindern nicht fordernd, sondern eher liebevoll. Während der Pubertät wurde es schwierig. Mein zwei Jahre älterer Bruder hatte überall Lämpen und war von zu Hause ausgerissen. Auch ich zog mit sechzehn von zu Hause aus, weil es immer wieder zu Auseinandersetzungen gekommen war. Meine Eltern fanden für mich ein Zimmer bei einer Schlummermutter mitten in der Stadt. Von dort aus ging ich weiter zur Schule.

Wie war das, so auf dich selbst angewiesen zu sein?
Weil mein Sackgeld nicht reichte, ging ich heimlich auf die Sihlpost als Expressbote arbeiten. Mit dem Velo fuhr ich in der ganzen Stadt herum und verteilte Expressbriefe und Telegramme. Damals bekam man noch einiges Trinkgeld. In die Telegramm-Couverts konntest du hineinblasen und so den Text lesen. Handelte es sich um eine freudige Nachricht, bist du besonders freundlich gewesen. Bei etwas Dramatischem hast du eher eine ernste Miene aufgesetzt. Auf der Sihlpost lernte ich ein lustiges Konglomerat von Leuten kennen. Da hatte es Hippies, Freaks, Studenten und Mittelschüler wie ich. Meine erste grosse Liebe war eine Arbeitskollegin. Sie stand kurz vor der Matur, war also etwas älter als ich. Schon bald lernte ich das Kommuneleben in Zürich kennen. Zusammen mit meiner Freundin und sechs anderen Leuten gründeten wir eine eigene Wohngemeinschaft an der Selnaustrasse. Ich war damals an allem interessiert, was mit neuen Wohnformen zu tun hatte.

Was machtest du nach der Matura?
Ich wollte nicht studieren und fand einen Job als Hauslehrer in der Familie eines Rechtsanwalts. Ich gab den Kindern Nachhilfeunterricht und hütete sie, wenn die Eltern weg waren. Auch machte ich Putzarbeiten. Ich befreundete mich mit dieser Familie, und im Hause dieses Anwalts roch ich zum ersten Mal an der Juristerei. Über gemeinsame Wohn- und Arbeitsprojekte lernte ich später die Leute vom linken Anwaltskollektiv in Zürich kennen und begann dort Anfang 1980 als Sekretär zu arbeiten. Das heisst, ich erledigte anfänglich Schreibarbeiten für die Anwälte. Das Anwaltskollektiv wurde 1975 gegründet und kam mit seiner täglichen Rechtsauskunft einem grossen Bedürfnis entgegen: Für zwanzig Franken konntest du eine Beratung erhalten, häufig haben sie für dich noch einen Brief geschrieben oder ein Telefon gemacht. Das war gegen alle Tarifstrukturen und Konventionen, so dass du möglichst niederschwellig zu deinem Recht kommen konntest.

Wie hast du auf den Ausbruch der Unruhen im Frühjahr 1980 reagiert?
Schon nach der ersten Krawallnacht wurden wir im Anwaltskollektiv damit konfrontiert, dass unzählige Leute verhaftet worden waren. Wir begannen einen Anwaltspool zu organisieren und Anleitungen herauszugeben, wie man sich verhalten soll, wenn man verhaftet wird: Was sind deine Rechte, und wann soll man Aussagen verweigern. Mein Kontakt zur 80er-Bewegung war intensiv. Im Anwaltskollektiv hatten wir noch einen zweiten Stock. Den stellten wir der spontan gebildeten Knastgruppe zur Verfügung. Da war ich von Anfang an dabei. Das war eine spannende und konspirative Tätigkeit. Die Knastgruppe war eine Anlaufstelle für alle, die in die Fänge der Justiz gerieten. Wir bereiteten Strafanzeigen gegen Polizisten vor, die wir bei Übergriffen gegen DemonstrantInnen ertappt hatten.

Welches war die Taktik der Verteidigung, wenn DemonstrantInnen vor dem Richter standen?
Wenn jemand die Aussage verweigerte, hatte die Anklage die Beweislast. Sie musste nachweisen, dass der Angeklagte an einem bestimmten Ort gewesen war. Zeugen mussten aufgeboten werden, um bei einer Gegenüberstellung mit dem Angeklagten und einer Gruppe von ähnlich aussehenden Personen richtig zu tippen. Wenn sie danebentippten, wurde das Verfahren eingestellt. Der Justizapparat investierte allerdings viel, um die Leute verurteilen zu können.

Wurden bei den Veurteilungen auch mildernde Umstände berücksichtigt?
Wesentlicher war, dass Exponenten der Bewegung und solche, die sich den Strafverfahren verweigerten, härter bestraft wurden. Es gab etliche, die keine mildernden Umstände für sich geltend machen liessen oder sich den Prozessen gänzlich verweigerten wie der durch seinen Fernsehauftritt als «Herr Müller» bekannt gewordene Aktivist. An ihm wurde ein Exempel statuiert. Als eine der Symbolfiguren der Bewegung deckten sie ihn mit einer Strafe von vierzehn Monaten unbedingt ein.

Welche psychischen Auswirkungen hatten die Strafverfahren auf die Verurteilten?
Es kam ganz drauf an, wie gut jemand in eine Szene eingebettet war. Wenn einer verhaftet wurde, der zum Beispiel in einer Kommune oder in einer Wohngemeinschaft lebte, kümmerten sich die MitbewohnerInnen natürlich um ihn und holten Rechtshilfe. Wenn dann eine wegen eines Vergehens drei oder vier Wochen Gefängnis erhielt, war dies für jemanden aus einer solchen Szene einigermassen verkraftbar. Ganz anders war das zum Beispiel für einen Lehrling, der bei einer Demonstration mitmachte und verhaftet wurde. Natürlich war er vielleicht auch mit Kollegen dort. Aber den ganzen Konflikt, den er nachher hatte – mit den Eltern, dem Lehrmeister und mit der Frage, wie es für ihn weiterginge -, musste er alleine austragen. Viele, die nicht gut vernetzt waren, sind abgestürzt und aus der Bewegung wieder herausgespült worden. Die haben wirklich einen Schuh voll herausgezogen. Etliche Drogenkarrieren nahmen damals ihren Anfang.
Auch darf man nicht die Wirkung der Untersuchungshaft unterschätzen. Am Anfang der Unruhen, als ich einmal verhaftet wurde, war ich nach zwanzig Stunden wieder draussen. Aber manche sassen viel länger in U-Haft, zwei Wochen und mehr. Das war ein Instrument, um Druck auf die Bewegung zu machen und uns zu verstehen zu geben: Jetzt lassen wir nichts mehr durch.

Wie ging es für dich und das Anwaltskollektiv nach dem Ende der Bewegung weiter?
Gegen tausend Leute wurden allein in Zürich in Strafverfahren verwickelt, kamen also in die Mühlen des Apparats hinein. Viele wurden verurteilt, auch wenn es kleinere Strafen waren. Auch das zeigte seine Wirkung. Charakteristisch für die 80er-Bewegung war ja die Vielfalt der Ausdrucksformen – von militant bis dadaistisch witzig. Jetzt blieben die Fronten verhärtet, und die Militanz durch einzelne Gruppen nahm zu. Es kamen die Winterthurer Prozesse. Da ging es um militante Jugendliche, die durch einen Sprengstoffanschlag auf den Fensterladen von alt Bundesrat Friedrich sowie durch eine Reihe von Brandanschlägen und Sprayereien in der Stadt Winterthur aufgefallen waren. Das ganze Umfeld des harten Kerns wurde eingesackt. Meine Aufgabe war es, Anwälte für diese dreissig Leute aufzubieten und eine Gruppe von betroffenen Eltern zu koordinieren. Mit der Knastgruppe wurde eine Demo organisiert. Das war dringend notwendig, weil in Winterthur die Repression unerbittlich zugeschlagen hatte, ungeachtet des Alters der Verhafteten, ihrer Lebensumstände und ihrer Rolle in dieser Szene. Das Umfeld und die Freundinnen wurden zum Beispiel in Untersuchungshaft gesetzt, um mit Druck Informationen über den harten Kern, die «bösen Buben», zu kriegen In dieser Situation änderten wir im Anwaltskollektiv unsere Taktik. Es war eine Abkehr vom Klandestinen. Mit Witz stellten wir uns öffentlich hinter die Jugendlichen. Während zehn Tagen kochten wir in einer Szenenbeiz von Winterthur. Das machte Spass und zeigte allen, wie wichtig die Solidarität mit den Anliegen der Jugendlichen war, auch wenn man mit ihrer Politik und ihrem Vorgehen nicht immer einverstanden war. Auch später, bei den Häuserbesetzungen am Stauffacher in Zürich, setzte sich die Abkehr vom Klandestinen zum öffentlich-witzigen Agieren durch.

Wie konntet ihr den Andrang in eurer Rechtsberatung bewältigen?
Wir konnten das alles nicht mehr alleine machen. Wir schufen ein neues Gebilde: den Verein Rechtsauskunftsstelle Anwaltskollektiv. Diese Beratungsstelle gliederten wir aus unserem Kollektiv aus. Sie blieb zwar am gleichen Ort, aber die Arbeit wurde auf mehr Anwältinnen und Anwälte verteilt. Heute sind es etwa siebzig AnwältInnen, die die Rechtsauskunft mit einem monatlichen Beitrag unterstützen und im Turnus Beratungen erteilen. Zehn Jahre war ich Generalsekretär dieses Vereins, baute ihn auf und aus. Ich machte das sehr gerne, und nebenbei war ich und die Rechtsauskunftsstelle an mehreren politischen Kampagnen beteiligt: gegen den Neubau von Gefängnissen, gegen das Polizeigesetz oder für die Initiative «Rechtsschutz in Strafsachen». Auch initiierten wir das Pikett «Strafverteidigung». Das ist ein Pikettdienst, der im Falle von Verhaftungen Anwälte organisiert. Nach zehn Jahren machte ich einen Unterbruch von einem halben Jahr, fuhr nach Südamerika und lebte auf einem Segelboot, um mir den Kopf zu verlüften. Dann entschloss ich mich, nach so vielen Erfahrungen mit der Justiz neben meiner Arbeit das Jus-Studium nachzuholen und das Anwaltspatent zu erwerben. Seither praktiziere ich als Anwalt im gleichen Umfeld, wo ich nun seit zwanzig Jahren tätig bin, allerdings mit einer neuen Crew. Unser Büro ist vor allem im Strafbereich engagiert. Wir organisieren jährlich einen Strafverteidigerkongress, um dem gegenwärtigen Rollback im Strafrecht und im Strafvollzugsrecht etwas entgegenzusetzen. Wir sind dagegen, dass gesellschaftliche Probleme primär mit strafrechtlichen Mitteln angegangen werden oder mit dem Mittel der Psychiatrisierung.

Lohnt es sich, gegen Unrecht einzustehen?
Ich komme aus der linken Tradition der siebziger Jahre, angefangen vom Gefängniskritiker Foucault bis hin zur Auseinandersetzung um Baader/Meinhof und RAF. Aus dieser Tradition der radikalen Staatskritik heraus stellt das Strafen im Grunde einen Unsinn dar. Der Repressionsapparat wird immer dann eingesetzt, wenn eigentlich gesellschaftliche Konflikte gelöst werden müssten. Gerade die Achtziger setzten demgegenüber alles auf die Autonomie, das heisst auf das eigene Lösen von Problemen. Der Staat hätte die hohen Kosten der Repression im Drogenbereich durchaus sparen können, wenn dem Experiment der kontrollierten Drogenabgabe im AJZ mehr Beachtung geschenkt worden wäre. Die Idealvorstellungen einer repressionsfreien Gesellschaft liegen heute am Boden. Bis weit in linke und feministische Kreise hat sich das Primat der Strafverfolgung durchgesetzt. Beim Umweltschutz, bei den Sexualstraftätern – überall wird auf Bestrafung gepocht. Mit diesem Selbstverständnis werden wichtige Instrumente der Prävention, des gesellschaftlichen Diskurses und der Selbsthilfe geopfert: in Zürich die Gassenarbeit der ZAGJP, das Frauenhaus, ein Treffpunkt für Kosovo-Albaner usw. Das hat einen grossen Flurschaden verursacht. Die Gesellschaft muss fähig sein, sich zu verändern und neue Ansätze der Konfliktlösung zu finden, ohne auf die repressiven Instrumente zurückzugreifen und im Strafen zu verharren.

http://www.av-produktionen.ch/80/port/hentz.html