Monthly Archives: April 2020

RHI: Ohne einen Augenblick zu verlieren!

Synthese der Arbeit der Konferenz der Roten Hilfe International vom 27-28 März 2020

1. Die Krise mit eigenen Augen betrachten

Wir ertrinken in Informationen der bürgerlichen Medien und diese Flut erzeugt eine gewisse Sicht der Krise. Die revolutionäre Linke muss ihre eigene Sicht der Krise haben, von ihrem Ursprung und ihrem Charakter, ihrer Gefahren und Möglichkeiten, ihrer Auswirkungen und ihrer Entwicklung. Und auf dieser Grundlage muss sie eine revolutionäre Politik definieren. Denn es ist unmöglich, eine wirklich revolutionäre Politik auf der Grundlage einer bürgerlichen Vision der Krise und ihres allgemeinen Rahmens (internationale Situation, interimperialistische Widersprüche usw.) zu definieren.

Es handelt sich um eine wahre Pandemie, die objektiv gesundheitliche Massnahmen, die zwangsläufig mit Einschränkungen einhergehen, erfordert. Aber es handelt sich gleichzeitig um eine Krise im kapitalistischen System und um eine Krise des kapitalistischen Systems. Jede Krise wirkt sich auf alle Aspekte der Gesellschaft aus. Aber manche Krisen sind globale Krisen: Sie werfen nicht indirekt Wellen, sondern treffen die Gesellschaft als Ganzes. Das ist der Fall bei dieser Krise.

Krisen waren schon immer Beschleuniger der Geschichte. Diese ist kein linearer Prozess. Die sozialen Widersprüche sammeln sich an und explodieren infolge dieses oder jenes Impulses. Krisen sind für revolutionäre Kräfte nicht einfach nur Gelegenheiten: Sie sind die einzigen wirklichen Momente, in denen die revolutionäre Agenda entscheidend vorangebracht werden kann.

Die Krise hat zu grossen Veränderungen im Verhalten und in den Gewohnheiten geführt. Sie ist der Beweis der Fähigkeit der Massen, sich zu verändern, sie ist die lebendige Negation der bürgerlichen These laut derer “die Menschen sind, wie sie sind, und werden sich nie ändern”. Der menschliche Verstand ist offen für andere soziale Funktionsweisen und auch das öffnet ein historisches Fenster für unsere Politik.

2. Das Spektrum der Situationen

Die Beiträge der nationalen Sektionen der RH haben Unterschiede in der Situation in den verschiedenen Ländern aufgezeigt. Die Länder sind unterschiedlich, ihre wirtschaftliche und politische Situation ist unterschiedlich, und sie befinden sich in unterschiedlichen Phasen der Krise. Die Trends sind jedoch homogen, selbst wenn sich ihre Konkretisierung in sehr unterschiedlicher Intensität ausdrückt:

  1. Die Sperrmassnahmen gelten überall, wenn auch mehr oder weniger strikt (in der Schweiz werden Gruppen von fünf Personen geduldet, aber in Frankreich kann man sich nur individuell und mit einem offiziellen Dokument bewegen);
  2. Die Situation der Klasse hat sich stark verschlechtert, ein Teil der Klasse ist ohne Einkommen (Italien) oder mit reduziertem Einkommen (70% des Gehalts in Belgien,während das Wohnen allein 50% des Einkommens absorbiert), ein Teil der Klasse ist übermässig ausgebeutet und Krankheiten ausgesetzt (Pflegepersonal, Verkäuferinnen, Lieferfahrer, etc.), und der marginalisierte Teil der Klasse (Illegale, Gefangene, Obdachlose usw.) befindet sich in einer schrecklichen Situation.
  3. Die Überwachung ist allgemein: Zusätzlich zur Ausgangssperre werden repressive Massnahmen eingesetzt, die als ausserordentlich gelten (deutsche Ärzte und Gesundheitsdienste, die der Polizei die Namen der Angesteckten geben, massenhafte Geolokalisierung der Bevölkerung, Einsatz der Armee usw.).
  4. Bedeutende wirtschaftliche Massnahmen: Astronomische Kredite für Unternehmen, Arbeitslosengelder, Moratorien über Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge usw..

3. Die Widersprüche verschärfen sich

Mit der Krise erhalten alle schon zuvor bestehenden Widersprüche eine neue Dimension. Sie nehmen nicht nur zu, sie verändern sich qualitativ und öffnen die Tür für politische, wirtschaftliche und soziale Umwälzungen. Unter anderem werden sie sichtbarer:

  1. Der Widerspruch zwischen Natur und Kapitalismus: Die Umwälzungen zwischen Stadt und Land, die Schwächung der Bevölkerung durch die Umweltverschmutzung (Wuhan, Lombardei), die erhöhte Gefahr von Epidemien durch den Waren- und Personenverkehr und die Schwierigkeiten, diese wegen der Liquidierung des öffentlichen Gesundheitssystems mit dem Ziel des Profits anzugehen, haben dazu beigetragen, die Krise zu provozieren oder zu verschärfen.
  2. Der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital: Er wird nicht nur schlimmer, sondern auch weithin sichtbar; bestimmte Schichten des Proletariats (die am schlechtesten bezahlten!) werden als die einzig wirklich nützlichen Kräfte in der Gesellschaft erkannt. Der parasitäre Charakter der Bourgeoisie wird offensichtlich, ebenso wie die katastrophalen Auswirkungen einer Politik, die auf Profit basiert.
  3. Auch der patriarchale Charakter der Gesellschaft erscheint offensichtlicher: Die notwendigen und schlecht bezahlten Arbeitsplätze sind in der Regel weiblich (Krankenpflegerinnen, Kassiererinnen), die Ausgangssperre verschärft die Unterdrückung der Frauen.
  4. Der Widerspruch zwischen proletarischen, sozialistischen Werten und den bürgerlichen Werten manifestiert sich ebenso deutlich: Solidarität statt Individualismus, Gemeinwohl statt Profit usw.
  5. Schliesslich explodieren die inneren Widersprüche innerhalb der Bourgeoisie buchstäblich und dies auf allen Ebenen:
  • Auf nationaler Ebene: Es gibt Widersprüche zwischen den Teilen der Bourgeoisie, die eine wirtschaftliche Tätigkeit ausüben wollen, und den Behörden, die den Gesundheitsmassnahmen Vorrang einräumen wollen; es gibt Widersprüche darüber, welchen Teilen der Bourgeoisie unterstützt werden müssen und welche einen Beitrag leisten müssen.
  • Auf europäischer Ebene: Wir erleben einen Rückkehr zum nationalen Egoismus, der die europäische Agenda weggefegt hat: Schliessung der Grenzen, Massnahmen einiger Länder auf Kosten anderer (z.B. die an den Grenzen beschlagnahmten Maskenbestände); Streit in der Frage der finanziellen Intervention der EU; Verschärfung der Widersprüche zwischen den Ländern des Nordens und des Südens der EU usw.
  • Auf der Welt: Die allgemeine, bereits bestehende Tendenz zu Chaos und Krieg wird verschärft, mit Regierungen, die immer unberechenbarer werden, weil sie internationale politische Entscheidungen in Abhängigkeit von lokalen Herausforderungen treffen, manchmal von einfachen Wahlen (Erdogan, Trump usw.). Die, wenn auch nur vorübergehende, Schwächung einiger Länder schafft Möglichkeiten für eine aggressive Politik anderer Länder.

4. Die Klasse bewegt sich!

Auch hier zeigten die Beiträge der nationalen Sektionen Unterschiede in einem gemeinsamen allgemeinen Trend. Überall bewegen sich die Massen und finden Wege zum Kampf:

  • Die Massen bewegen sich in ihren Köpfen, es entwickelt sich eine radikal kritische Sicht auf das System und seine Herrscher.
  • Die ProletarierInnen, die kein Einkommen haben oder übermässig ausgebeutet werden, kämpfen. Es gibt bedeutende Streiks in Italien (was teilweise den Mangel an Arbeitslosenunterstützung erklärt) und ein bisschen überall dort, wo die Beschäftigten der Krankheit ausgesetzt sind (Kaufhäuser, Baustellen).
  • • Die Massen finden Wege, um ihre ideologischen Werte zum Ausdruck zu bringen: Solidaritätsbekundung mit dem Gesundheitspersonal (Applaus auf den Balkonen), gegenseitige Hilfe im Quartier zur Versorgung der ältesten oder anfälligsten Menschen.
  • Die am stärksten Benachteiligten revoltieren (Gefängnisrevolten, Plünderung von Supermärkten in Sizilien).

Natürlich bewegen sich die Massen ausgehend vom allgemeinen Niveau des Kampfes und Bewusstseins vor der Krise, was zu grossen Unterschieden zwischen den Ländern führt (z.B. zwischen der Schweiz und Italien).

Diese Tendenzen werden sich mit dem Ende des Lockdown weiterentwickeln. Es wird notwendig sein, diese Entwicklungen äusserst aufmerksam zu verfolgen und dabei zu bedenken, dass sie nicht automatisch sind und auch zweifellos mit widersprüchlichen Aspekten erfolgen werden: Einige Teile der Klasse werden vielleicht in die Offensive gehen, wobei sich vielleicht andere mit dem Diskurs über die nationale Einheit abfinden werden. Es könnte sehr wohl sein, dass sich ein Teil der Klasse gegen die wirtschaftliche Konsequenzen mobilisieren lässt, ohne dabei die Kritik an den politischen Entwicklungen (wie die Überwachungsmassnahmen der Telefone) aufzunehmen.

5. Die Schwierigkeiten der Bourgeoisie

Die Krise, die Explosion der Widersprüche, die Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit eines Teils ihres Staatsapparates, die Vorwürfe gegen ihre Herrschaft und ihre Politik vor der Krise, all dies bringt die Bourgeoisie in Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten entwickeln sich im Laufe der Zeit: So zerbröckelt zum Beispiel ihre relative Einheit hinsichtlich der ersten Sperrmassnahmen, wenn es darum geht diese zu verlängern (die Fraktionen, die ihre Tätigkeit wieder aufnehmen wollen, werden immer drängender).

Diese Schwierigkeiten sind um so grösser:

  • Wenn ihre internen Widersprüche explodieren, ihre nationalen und supranationalen Instrumente der Zusammenarbeit scheitern;
  • wenn ihre Klassenposition und ihre Klasseninteressen immer sichtbarer sind, was die Ausübung ihrer Macht erschwert;
  • wenn die reaktionären Ablenkungsmanöver mit denen sie den Zorn der Massen kanalisierten, wie etwa der Fokus auf Migranten, nicht mehr funktionieren. Mit der gesundheitlichen Krise ist die politische Agenda der extremen Rechten aus den Nachrichten verschwunden.
  • Die Wirtschaftskrise droht sich nach dem Ende des Lockdown zu vertiefen, was die Klassenwidersprüche und jene innerhalb der Bourgeoisie weiter verschärfen wird.

Überall hat die Bourgeoisie Mühe zu reagieren. Ihre Reaktionen sind ungeordnet, fieberhaft, sie trifft manchmal widersprüchliche Entscheidungen, manchmal “linke”, manchmal “rechte” Entscheidungen, manchmal im offenen Gegensatz zu all dem, was sie früher verteidigt haben (Deutschland, Verfechterin einer antiinflationären Politik die jetzt riesige Staatsschulden zulässt). Diese allgemeine Unfähigkeit der Bourgeoisie, eine kohärente Politik zu definieren und zu verfolgen, ist auch ein Hinweis darauf, dass die gegenwärtige Krise eine historische Krise ist.

6. Die Bourgeoisie versucht zu reagieren

Auf unzusammenhängende Weise und mit Nuancen je nach Land versuchen die nationalen Bourgeoisien auf allen Ebenen zu reagieren:

  • Auf der ideologischen Ebene mit der Parole “gemeinsam gegen das Virus”, wobei auf die individuelle Verantwortung gesetzt wird, mit einer Angstmache, die nicht vorhanden war, als es sich um andere tödliche Risiken, die mit ihren Profiten vereinbar waren (Atomkraft, Asbest), handelte;
  • auf der wirtschaftlichen Ebene mit einem panischen Neo-Keynesianismus und einer massiven Geldspritze für die Gesellschaft; das bedingungslose Grundeinkommen findet jetzt sogar in der Financial Times Verfechter;
  • auf der Klassenebene durch den Kauf des sozialen Friedens (bereits Politik im Norden, die auch im Süden geplant wird, wo derzeit über Arbeitslosengelder verhandelt wird);
  • auf der politisch-sozialen Ebene mit den je nach Land mehr oder weniger fortgeschrittenen Versuchen, die Initiativen der Massen zu vereinnahmen (den täglichen Applaus zum Moment des nationalen Zusammenhalts zu machen, institutionelle Einbindung der lokalen Selbsthilfeinitiativen usw.);
  • auf der Ebene der sozialen Kontrolle mit dem Ausnahmezustand, der Massenbespitzelung der Bevölkerung, der Ermutigung zur Denunziation, dem Rückgriff auf die Armee in mehreren Ländern usw., aber auch in dem sie Eigeständnisse macht (da sie z.B. nicht in der Lage ist, die Überfüllung der Gefängnisse zu bewältigen, muss sie Massenentlassungen durchführen);
  • auf der Ebene der Regierungsführung mit der Konstituierung (unter verschiedenen Bezeichnungen) von sogenannten Expertengremien (Ärzte, Ökonomen), die es den Politikern ermöglichen, den Mangel an Vertrauen und Anerkennung, dem sie unterworfen sind, auszugleichen, und die arbeiterInnenfeindlichen Massnahmen den Anschein wissenschaftlicher und unpolitischer Neutralität zu verleihen;
  • auf internationaler Ebene mit der Abkehr von Bündnispolitik und gemeinsamem Tragen der Kosten (z.B. in der EU, aber auch in der NATO) zugunsten einer Politik des Primats des nationalen Interesse, die Wettbewerb, Rivalität und Konkurrenz wiederbelebt.

7. In die Offensive gehen!

Die Bourgeoisie befindet sich in einer Position extremer Schwäche, ihr System und ihre Werte werden stark angegriffen, was eine historische Chance für die revolutionäre Linke schafft. Die praktischen Schwierigkeiten des Lockdown, die Sorge, angesichts der Ansteckungsgefahr verantwortlich zu sein, dürfen nicht die historische Chance verdecken, die sich uns bietet, die revolutionäre Sache entscheidend voranzubringen.

Aber dazu müssen wir uns vor vier Fehlern hüten:

  1. Die Pandemie ist wirksam, die Todesfälle sind zahlreich, die Krankheit befällt und tötet die Schwächsten. Der Lockdown, auch wenn er von der Bourgeoisie beschlossen wurde, ist richtig. Es ist eine immense und dramatische Krise, aber wir dürfen die revolutionäre Praxis nicht aussetzen (oder uns im Internet einsperren lassen). Die Abdankung ist keine revolutionäre Politik.
  2. Es ist unsere moralische Pflicht, den durch die Krise entstandenen dramatischen Situationen (wirtschaftlicher und gesundheitlicher Natur) Abhilfe zu schaffen, den Schwächsten zu helfen. Aber wenn dies Teil unserer revolutionären Identität ist, ist es alleine noch keine revolutionäre Politik. Wir müssen die unterschiedlichen Formen der Solidarität unterstützen, aber wir dürfen uns nicht in ihnen auflösen.
  3. Wir müssen die spontanen Reaktionen der Massen verstehen und schätzen, uns an sie anlehnen, in sie eintauchen, um sie zu analysieren. Aber wir dürfen nicht hinter ihnen herlaufen: Opportunismus ist keine revolutionäre Politik.
  4. Die Situation ist neu, sie erfordert neue Methoden, neue Verständnisse, neue Orientierungen. Mehr denn je sind Dogmatismus und Sektierertum kontraproduktiv. Die Linien bewegen sich. Auf ahistorischen Vorschläge zu beharren, ist keine revolutionäre Politik.

8. Eine revolutionäre Politik definieren

Die Frage nach der objektiven Schwäche der revolutionären Kräfte und Organisationen stellt sich in Krisenzeiten anders. Die Krise wirkt wie ein Multiplikator der Kräfte, sie verstärkt die Thesen, die mit der Situation der Klasse übereinstimmen, bis ins Unendliche.

Die Frage der Revolution steht nicht auf der Tagesordnung – die revolutionäre Linke startet von so weit her! – aber was in dieser Phase, die nicht mit dem Ende des Lockdown enden wird, auf der Tagesordnung steht, ist die Möglichkeit, einen immensen Sprung nach vorne für die revolutionäre Sache und die revolutionären Kräften zu machen.

Es ist notwendig, im Verständnis der Krise und ihrer Folgen voranzukommen, es ist notwendig, ohne Arroganz oder Vorurteile auf die Initiativen der Massen zu schauen, es ist notwendig, über neue Mittel, neue Wege, neuen Methoden und neuen Einheiten nachzudenken.

Das bedeutet, als InternationalistInnen zu denken: Die Krise ist global, was an einem Ende der Welt geschieht, betrifft die ganze Welt. Die Massen auf der ganzen Welt stehen vor dem gleichen Problem und werden sich dessen bewusst. Internationalismus bedeutet auch von den Geschehnissen in anderen Ländern und von Positionen und Kampfformen die anderswo angewendet werden lernen zu können, so wie wir es auf den RHI-Konferenzen tun.

Die Losung der RHI: Kapitalismus zerschlagen, Solidarität aufbauen, ist in der gegenwärtigen Krise besonders relevant. Man muss aktiv zur Massensolidarität, zur (wirtschaftlichen und gesundheitlichen) Selbstverteidigung der ArbeiterInnen beitragen, aber gleichzeitig muss man den Angriff direkt und frontal gegen die Bourgeoisie und ihren Staat führen. Und dieser Angriff muss im Geiste einer breiten revolutionären Front durchgeführt werden, welche Unterschiede (in Bezug auf Projekt, Strategie, Taktik) akzeptiert und die Arbeit auf den beiden bereits erwähnten Achsen, die miteinander verbunden sein müssen, zusammenführen: Kämpfe und Initiativen der Klasse unterstützen und die Macht angreifen.

Das bedeutet, dass wir uns nicht im Internet einschliessen lassen dürfen, wir müssen Wege finden, um uns die Strasse wieder zu nehmen.

Nur so können wir zu einer endgültigen, massenhaften Verurteilung des Kapitalismus voranschreiten, nur so können wir in einer echten, dialektischen Beziehung zu den Massenbewegungen treten, nur so können wir die revolutionäre Alternative zu einer Frage auf Massenebene machen, nur so können wir unseren Strukturen die Grösse und die Qualität verleihen, die für die Feuerprobe der Revolution erforderlich sind.

Sekretariat der Roten Hilfe International

Brüssel und Zürich, den 5. April 2020

Covid-19: Informationen und Überlegungen zur Situation in Italien

Der Ausnahmezustand, d.h. das Regierungsdekret zur Ausgangssperre, wurde am 9. März erlassen. Der Erlass kam plötzlich, bis dahin waren nur einzelne Provinzen streng abgeriegelt (insbesondere die Region Lombardei), jetzt wurde die gesamte Halbinsel zu Hause eingesperrt. Inhaftierung begleitet von drastischen repressiven Massnahmen. Nicht wesentliche Aktivitäten wurden untersagt: Geschäfte, Bars, Hotel, öffentliche Räumlichkeiten, Kirchen und Vereine wurden geschlossen. Als essenzielle Sektoren werden das Gesundheitssystem, die Landwirtschaft und die Lebensmittelverteilung, also auch der Verkehr, Bankdienstleistungen, die öffentliche Verwaltung und die Medien angesehen. Alles in Formen und Rhythmen, die in ständiger Neudefinition nach unten korrigiert wurden, in einem instabilen Gleichgewicht zwischen gesundheitlichen Notwendigkeiten und lebenswichtigen sozialen Anforderungen.

Angesichts des grossen Widerspruchs der Funktionserhaltung wurden die Massnahmen in Frage gestellt. Die Arbeitgeber beriefen sich mit grossem Geschrei auf die Rolle der Industrieproduktion als Hauptsäule der gesamten Gesellschaft! Was sehr interessant war, da es plötzlich die kapitalistischen Gesetze enthüllte, die immer versteckt wurden, und insbesondere, dass die Arbeiterklasse nicht verschwunden ist, im Gegenteil, sie bleibt das wesentliche Objekt der kapitalistischen Ausbeutung. Dies rief auch eine Klassenreaktion hervor, wie wir sie seit langem nicht mehr gesehen haben. Innerhalb von vier Tagen vermehrten sich die Streiks in einer grossen Anzahl von Fabriken vom Norden bis in den Süden des Landes. Alle wichtigen Orte waren betroffen. Das Schlagwort, das sich spontan verbreitete, lautete: „Wir sind kein Schlachtvieh!“. Die einheitliche Forderung: die Einstellung der gesamten Produktion, die nicht unbedingt erforderlich ist, und die Sicherung der Arbeitsbedingungen für wichtige Standorte. Garantiertes Gehalt für alle!

Der Aufstand war derart, dass sich die Regierung bereits am 14. März gezwungen sah, ein Dekret zu erlassen, das ein schwieriges Gleichgewicht mit den sehr anspruchsvollen Arbeitgebern anstrebte. Es zeigte sich, dass dieser erste Kompromiss zu sehr unter dem Diktat der Bosse stand. Die Streiks gingen weiter und am 25. März wurde von den beiden stärksten Basisgewerkschaften, der USB (Unione sindicale di base) und der CUB (Confederazione unitare di base), ein Generalstreik ausgerufen. Es war ein grosser Erfolg, auch wenn es diesen Gewerkschaften nur gelang, verstreute und unsystematische Situationen zu berühren, also nicht in einem Ausmass, wie es die drei historischen Gewerkschaften konnten. Aber das Zeichen war stark, zumal es überall zu vielen spontanen Streiks führte. So wurden die Verhandlungen zwischen Regierung, Arbeitgebern und den drei Grossgewerkschaften fortgesetzt, mit dem Ziel, die in Betrieb befindlichen Fabriken zu reduzieren. Das Resultat lag jedoch weit unter den Forderungen zurück. Um nur ein Skandal zu nennen: Eine Reihe von Waffenfabriken produzieren weiter, darunter die der F-35-Kampfflugzeuge!

Und das alles, während man erfuhr, dass es nur eine Fabrik für die Herstellung von Atemgeräten gibt, die heute von grundlegender Bedeutung sind, um schwerkranke CoronapatientInnen zu pflegen. Und dass viele von ihnen gerade wegen des Mangels an diesen Geräten sterben. Diese krassen Widersprüche werden in die Debatte aufgenommen und lassen einen gewissen Volkszorn wachsen, von dem man mangels konkreter Möglichkeiten, ihn auch zu zeigen, kein genaues Mass hat. Aber wir können fühlen, dass die Wut brodelt.

Der andere grosse Widerspruch ist offensichtlich der beklagenswerte Zustand, in dem sich das öffentliche Gesundheitswesen nach Jahrzehnten neoliberaler Politik, Privatisierungen und systematischem Abbau von Strukturen und Personal befindet. Die Menschen bedanken sich für die Opfer dieser MitarbeiterInnen an vorderster Front und lassen sich nicht von der Heuchelei der Regierung und der parlamentarischen Parteien täuschen, die an diesem Geist der Solidarität teilnehmen wollen (indem sie ihn auf nationale Schienen umleiten, einer angeblichen neuen Gemeinschaft), während sie für diesen schlechten Zustand verantwortlich sind. Der Kampf um diese Frage und allgemein um die Strukturen des öffentlichen Dienstes, des Sozialstaates, wird wahrscheinlich zu einer Hauptachse der kommenden Mobilisierungen. An diesem Punkt ist klar, dass das Konzept der Gesundheit als universelles Recht, das sich ausserhalb des Markts befindet, dem Gesundheitssystem, das in der Gesundheit eine Ware sieht (und dem Krankenhaus als Unternehmen), radikal entgegengesetzt ist. Gebt einem Kampf, der lange dauern wird, sozialistische Substanz.

Eine andere Frage, die sich stellt, ist die nach Einkommen und garantierten Löhnen. Die technische Arbeitslosigkeit eines grossen Teils der Arbeitswelt – einschliesslich der ohnehin prekären Schicht mit miserablen und jederzeit kündbaren Verträgen sowie der (in Italien sehr grossen) Schicht der Schwarzarbeit – hat riesige Massen in Angst versetzt. Sie werden am Ende des Monats ganz einfach ohne Geld dastehen. Die Regierung nahm dort eine entschieden keynesianische Wendung. Plötzlich werden zwei- später dreistellige Milliardenbeträge zur Verfügung gestellt, dank der „Erlösung“ durch die EU und die EZB. Die Grösse der Katastrophe zwingt sie dazu, aber es wird einen dramatischen wirtschaftlichen Niedergang und eine historische soziale Katastrophe nicht verhindern. Darauf bereiten sich viele Menschen und militante Gruppen vor. Die Frage des garantierten Einkommens wird von grundlegender Bedeutung, über den aktuellen Notstand hinaus. Und auch dort wird es notwendigerweise zu einer Konfrontation mit dem System hinauslaufen. Es beginnt zum Beispiel mit den ersten Zahlungsverweigerungen für Miete und andere Rechnungen rund ums Wohnen. Die Basisgewerkschaften haben beschlossen, diese Form des Widerstands zu unterstützen und zu organisieren. Was darüber hinaus in Italien während des revolutionären Zyklus der 1970er Jahre eine glorreiche Vorgeschichte hat. Dass nun plötzlich Berge von Geld bereitstehen und dass die ehernen Gesetze der Wirtschaft nun doch aufgehoben werden können, enthüllt den politischen Charakter der Klassenherrschaft, der Verurteilung zum Elend. Diese Enthüllung wird die Meinung der Massen prägen. Es ist das Kräfteverhältnis, das die Gesellschaft regiert: Lasst uns da mitspielen!

Und noch eine Frage taucht kraftvoll auf: die Verwüstungen, die der Umwelt zugefügt wurden, die Grenzen eines organischen Zusammenlebens zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft. Das Coronavirus entwickelt sich offensichtlich auf dem ungesunden Gelände der industriellen Tierhaltung (die bereits den “Rinderwahnsinn”, die Vogelgrippe, Sars usw. hervorgebracht haben), für die auch illegal Wälder gerodet werden (wie im Amazonas), was wiederum zu weiterer ökologischer Instabilität und der Migration von Viren und anderen Tieren führt. Schliesslich kommt dies alles in den Grossstädten zusammen, die von chronischer Verschmutzung geprägt sind. Das sind laut mehreren wissenschaftlichen Analysen die Gründe, wieso eine reiche und überbevölkerte Region wie die Lombardei im Zentrum dieser Krise steht. Beachten wir, dass die am stärksten betroffenen Gebiete zwei Städte sind, die historisch und aktuell stark von Industrie geprägt sind (Brescia und Bergamo). So ist ein grosser Teil der Alten, die sterben, ehemalige ArbeiterInnen mit zerstörten Lungen. Es zirkuliert dann in der allgemeinen Wahrnehmung, dass dieses Virus eine Art Aufstand der Natur sei, gegen alles, was ihr angetan werde. Dieses Bewusstsein kann die bereits laufenden (momentan unterbrochenen) Mobilisierungen beeinflussen und stärken, Bewegungen wie die “Fridays for Future”, und ihren Klassencharakter und den Antikapitalismus betonen.

In dem Zustand, in dem wir uns befinden, ist eine Aktivität, die sich durchgesetzt hat, das Schreiben von Texten und Online-Debatten. Man trifft da auf viele dieser Reflexionen und Überlegungen. Dies ist wertvoll, um sich auf die Wiederaktivierung vorzubereiten, ihr ideologischen Gehalt und Möglichkeiten für die Mobilisierung zu geben. Und einige organisatorische Änderungen sind im Gange, mit den Versammlungen via Radio, mit der Bildung einer Koordinierung der lokalen Kämpfe (zum Beispiel in Turin und Rom), mit gewerkschaftlichen und politischen Aktivitäten in Fabriken, Krankenhäusern und Transportmitteln. Vor allem bemerken wir schliesslich einen starken Impuls zur Einheit, in Richtung Einheitsfront. Da wir den ganzen Ernst der Situation wahrnehmen, müssen wir die Kraft finden, uns ihr zu stellen. Und wir können es nur alle zusammen schaffen, zumindest der proletarische Teil.

Die Sorge ist gross, viele Menschen wissen, dass ihr Leben auf den Kopf gestellt ist, dass sie ihren Job nicht mehr haben werden und nicht einmal ihr Geschäft noch existieren wird. Und uns gegenüber steht das Sicherheitsaufgebot der militarisierten Gesellschaft. Insbesondere haben wir gesehen, welche repressive Gewalt gegen die Gefangenen im Aufstand angewandt wurde. Es sieht aus wie die Gewalt eines verwundeten Tieres, das keinen Ausweg sieht; die Gewalt eines Systems, das sich in Bedrängnis weiss. Wie oft haben wir, die RevolutionärInnen der Klassenbewegung, das chaotische und barbarische Ende des Kapitalismus gepredigt. Wir sind wahrscheinlich da. Wir müssen nun hartnäckig arbeiten und kämpfen, um uns die Mittel zu geben, um der Aufgabe gerecht werden zu können.

Ein Genosse der Proletari Torinesi Per Il Soccorso Rosso Internazionale

Rom, 3. April 2020

Brief von Nekane Txapartegi

Vier Jahre seit meiner Verhaftung in der Schweiz: vier Jahre der Ungewissheit

Heute vor vier Jahren, am 6. April 2016 wurde ich in Zürich auf dem Pausenhof meiner Tochter verhaftet. Seither ist viel passiert.

Nach der siebzehnmonatigen Isolation in Schweizer Gefängnisse ging die politische Verfolgung weiter. Mitten in der Aufregung für die Vorbereitung als 1. Mai-Hauptrednerin 2018 erfuhr ich, dass das Sondergericht Audiencia Nacional ein neues Verfahren gegen mich ankündigt. Doch ich liess mich nicht einschüchtern und denunzierte an der 1. Mai-Schlusskundgebung auf dem Sechsenläutenplatz die Existenz politischer Gefangener weltweit. Nach dieser Rede drohte mir ein in der Schweiz lebender spanischer Faschist und ehemaliger Beamter der Guardia Civil in einer spanischen Zeitung, mir solle meine Aufenthaltsbewilligung entzogen werden. Ein Jahr verging mit dieser konstanten Ungewissheit, wie es weitergehen wird.

Im Mai 2019 forderte mich die Schweizer Staatanwaltschaft zu einer Videokonferenz mit dem franquistischen Sondergericht auf. Die Audiencia Nacional hatte ein neues Verfahren eröffnet. Die Folterer wollen mich wieder in Knast sehen! So ging ich mit hundert solidarischen Personen nach Bern. Auch meine Tochter kam mit. Sie wollte selber sehen, wie ich nach der Befragung wieder aus dem Gebäude herauskomme. Die konstante Angst, dass ich wieder von ihr getrennt werden könnte, ist traumatisierend für sie. Die Schweizer Behörden tragen eine Mitschuld: Bis heute haben sie die Folter, die ich überlebt habe, nicht untersucht und anerkannt, ausserdem verweigern sie mir politisches Asyl.

Da ich mich weigerte an einem Verfahren teilzunehmen, das erneut auf den Folteraussagen basiert, drohte die Richterin meinen Anwält*innen mit einem sofortigen Verhaftungsbefehl. Meine Tage in Freiheit seien gezählt.

Erneut folgte eine Zeit der Ungewissheit. Ich versuchte, so gut es ging zu vermeiden, dass dieser repressive Verfolgungsapparat nicht komplett unseren Alltag überschattete. Aber es gab Momente, in denen ich in meiner Nachbarschaft überall Zivilpolizisten sah und ich mich nur schwer auf etwas konzentrieren konnte. Auch die Personen in meinem Umfeld waren von der Bedrohung und Ungewissheit betroffen. Gleichzeitig erlebte ich viel Solidarität. Im Free Nekane-Bündnis haben wir einen neuen Comic gestaltet, ein Video, Flyer, Fahnen und neue Kleber gemacht, Demos und Veranstaltungen organisiert. Wir haben nicht aufgegeben.

Im Oktober 2019 stellte die Audiencia Nacional dann einen internationalen Fahndungs- und Haftbefehl aus. Wird die Schweizer Regierung erneut die Folterer unterstützen? Bisher entzog sich die Schweiz jeglicher Stellungnahme. Die Foltervorwürfe hat sie bis heute nicht untersucht und auch eine finanzielle Entschädigung für meine Haft verweigert der Schweizer Staat (Bundesgerichtsentscheid vom März 2020).

Die aktuelle Situation sieht für mich so aus: Der spanische Staat will mich ausliefern lassen. Der Ball liegt bei den Schweizer Behörden. Seit letztem Oktober haben wir nichts Neues gehört. Einerseits ist das ein gutes Zeichen. Ich bin in Zürich, auf freiem Fuss, kann arbeiten und mich um meine Tochter kümmern. Andererseits sind die ständige Ungewissheit und die allzeit präsente Verhaftungsgefahr sehr belastend für mich, meine Tochter und mein Umfeld.

Aber wir sind bereit, die Free Nekane-Netzwerke sind stark. Die schweizweite solidarische und feministische Bewegung hat gezeigt, dass sie kämpft, solange ich verfolgt werde. Nekane bleibt frei!

Durch die Massnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus haben mehr Menschen einen kleinen Einblick erhalten, was Isolation bedeuten kann, wie es ist, Angehörige nicht besuchen oder sich bei Todesfällen nicht verabschieden zu können. Dies ist unsere jahrelange Realität. Das Corona-Virus wird eines Tages unsere Leben wieder weniger stark prägen, die Verbote und Massnahmen für einige wieder aufgehoben werden. Für uns aber werden diese Lebensumstände bleiben, solange diese mörderische Verfolgung nicht gestoppt wird.

Wir bleiben aufmerksam, wir bleiben bereit!
Feministische und kämpferische Grüsse
Jo ta ke denok aske izan arte!
Nekane

http://www.freenekane.ch/

Grussbotschaft der Zwischenkonferenz der Roten Hilfe International an die politischen Gefangenen

Liebe Genossinnen und Genossen

Die RHI konnte ihre internationale halbjährliche Konferenz trotz den Einschliessungsmassnahmen und der Schliessung der Grenzen abhalten und hat dabei dieses Jahr ihr 20-jähriges Bestehen gefeiert. Im Dezember 2000 wurde die Neugründung dieser historischen Struktur entschieden, mit einem bescheidenen Anfang und neuen Formen. Seit ihrer Gründung hat die RHI versucht, sich dort zu positionieren, wo die Kämpfe am strategischsten waren, wo die Widersprüche am explosivsten und grundlegendsten waren.

Diese zwanzig Jahre Kontinuität sind auch zwanzig Jahre Kampf an eurer Seite. Wenn die Kontinuität ein grundlegender Wert für das revolutionäre Projekt ist, so seid ihr, die revolutionären Gefangenen, ein wichtiger Teil. Indem ihr fortwährend die revolutionären Projekte verkörpert und verteidigt, für die ihr eine Inhaftierung in Kauf genommen habt, bestärkt ihr die Identität, die Reichhaltigkeit und die politische und historische Dichte der Kräfte draussen.

Die revolutionären Kräfte sind heute mit einer aussergewöhnlichen Lage konfrontiert. Die imperialistische Bourgeoisie, welche die Pandemie durch die Globalisierung und die Liquidierung des öffentlichen Gesundheitswesens ermöglicht hat, ist in einer Krise. Die Krise der Pandemie macht die Widersprüche sichtbarer denn je und verschärft sie. Es ist ein historischer Moment für die revolutionäre Linke, die fähig sein muss, aus Gewohnheiten herauszukommen, auf neuen Feldern und mit neuen Methoden aktiv zu werden, in Verbindung mit den Dynamiken der Solidarität und des Kampfes zu treten und die Offensive gegen das System zu ergreifen. Über diesen Punkt haben wir uns an der Konferenz am meisten ausgetauscht.

Aber als Gefangene seid ihr auch auf einem besonders harten Pflaster des Kampfes, das durch die Pandemie noch härter wird. Die Überbelegung, die veraltete Infrastruktur und die im besten Fall dürftigen, im schlimmsten Fall nichtexistenten, sanitären Anlagen, sind Faktoren welche die Gefängnisinsassen exponieren. Überall auf der Welt brechen Kämpfe in den Gefängnissen aus, und wir wissen, dass mehrere von euch an ihnen Teil genommen und mehrere von euch die Repression, die auf diese Kämpfe folgte, erfahren haben.

Die Pandemie bringt die Widersprüche und die Barbarei des Kapitalismus ans Tageslicht. In den Gefängnissen, ausserhalb der Gefängnisse, muss und wird sich der Kampf verstärken!

An eurer Seite in diesem Kampf schicken wir euch allen, Genossinnen und Genossen, unsere herzlichsten solidarischen Grüsse.