Die US-Militärbehörden wollen Chelsea Manning brechen. Die Whistleblowerin benötigt dringend den Schutz der Öffentlichkeit
Von Jürgen Heiser
Die Behandlung Chelsea Mannings im US-Militärgefängnis Fort Leavenworth (Kansas) ist nach Aussage von Solidaritätsgruppen »schändlichster Machtmissbrauch«
Foto: REUTERS/U.S. military barracks public affairs department
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Jürgen Heiser schrieb an dieser Stelle zuletzt am 28.7. über die systematischen Spitzeleien der New Yorker Polizei.
Vor drei Jahren, am 21. August 2013, wurde im ersten großen Militärgerichtsprozess der USA gegen einen Whistleblower das Strafmaß verkündet. Die Anklage richtete sich dabei gegen den Obergefreiten Bradley Manning, der erst zum Ende des Prozesses öffentlich erklärte, künftig sein »wahres Ich als Frau« leben zu wollen. Damit nahm der am 17. Dezember 1987 in Oklahoma City als Bradley Edward Manning Geborene seinen Kampf für die Wandlung seiner Geschlechtsidentät auf. Seit ein US-Zivilgericht im April 2014 den Anspruch des politischen Gefangenen auf Anerkennung seiner neuen Identität bestätigte, führt er beziehungsweise nun ganz offiziell sie den Namen Chelsea Elizabeth Manning und konnte inzwischen mit einer Hormonbehandlung beginnen.
Als Oberst Denise Lind, Vorsitzende Richterin am US-Militärgericht in Fort Meade (Maryland), an jenem 21. August das Strafurteil von 35 Jahren Gefängnis gegen den ehemaligen Nachrichtenanalysten der US-Armee wegen »Spionage« und »Diebstahls von Regierungseigentum« verkündete, war die nach Mannings Verhaftung im Mai 2010 immer wieder thematisierte Todesstrafe wegen »Hochverrats« kein Thema mehr. Erzkonservative Militärs, Politiker und Medien hatten dem »Verräter« wegen der auf der Enthüllungsplattform Wikileaks veröffentlichten Dokumente über die Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan und Irak sowie die Machenschaften des US-Außenamtes öffentlich den Tod gewünscht. Jedoch hatten die Ankläger des Pentagon die nach dem Gesetz mögliche Höchststrafe nach Einschätzung der Verteidigung wegen der zu erwartenden Proteste nicht beantragt. Außerdem ließ das Gericht den dafür notwendigen schweren Vorwurf der »Unterstützung des Feindes« nach Anträgen der Verteidigung per Beschluss fallen.
Dem Tod entronnen
Dennoch ist Chelsea Manning am 5. Juli 2016 nur knapp dem Tod entronnen. Als die Nachricht bekannt wurde, die weltweit wegen ihres Mutes geschätzte Whistleblowerin habe einen Suizidversuch unternommen, traten Menschenrechts- und Solidaritätsgruppen sofort der offiziellen Darstellung von einem »Selbstmordversuch« entgegen. Wenn Manning sich das Leben habe nehmen wollen, sei dies Folge »jahrelanger Misshandlung im Gefängnis«, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der Gruppen »Fight for the Future«, »Demand Progress«, »RootsAction« und »Care2«. Die Behandlung von Chelsea Manning durch die US-Regierung werde »als einer der schändlichsten Machtmissbräuche in die Geschichte unserer Nation in Erinnerung bleiben«, erklärte Evan Greer, Kampagnenleiter der Bürgerrechtsgruppe »Fight for the Future«. Jeder, der sich für die Menschenrechte einsetze, »sollte sich sofort gegen diese Grausamkeit und Ungerechtigkeit aussprechen«.
Die Solidaritätsbewegung reagierte damit vor allem auf das Verhalten der Behörden, über das sich Mannings Hauptverteidigerin Nancy Hollander in einer Pressemitteilung vom 6. Juli »schockiert und entsetzt« zeigte. Ein Sprecher des Militärgefängnisses Leavenworth (Kansas) habe sich nämlich »mit vertraulichen persönlichen Informationen über Chelsea Manning zuerst an die Presse gewandt«. Von den verantwortlichen Militärs habe es jedoch niemand für notwendig erachtet, »ihrem Verteidigungsteam auch nur ein Fitzelchen Information zukommen zu lassen«, so Hollander. Erst mit Verspätung habe sie erfahren, dass ihre Mandantin »auf die Krankenstation verlegt worden« sei. Ein verabredetes »Telefonat mit Vorrangstatus« sei dann nach Angaben von Militärs nicht zustande gekommen, weil angeblich im Anwaltsbüro niemand abgenommen habe. Die Anwältin bezeichnete das als »glatte Lüge«, da ihr Team »die ganze Zeit neben dem Apparat auf den Anruf gewartet hatte«. Auch am dritten Tag wurde Anwältin Hollander »auf Weisung der Ärzte« immer noch nicht mit ihrer Mandantin verbunden, was faktisch einer Kontaktsperre gleichkam.
Erst am 11. Juli, also sechs Tage nach den für die Verteidigung immer noch völlig ungeklärten Vorfällen in der Haftanstalt, konnten Hollander und ihre Kollegen Chase Strangio und Vincent Ward endlich mit der Mandantin sprechen. So erfuhren sie, dass es Manning lieber gewesen wäre, die »persönlichen Informationen über ihre medizinische Situation nicht an die Öffentlichkeit zu bringen und sich auf ihre Genesung zu konzentrieren«, teilte Hollander in einer Presseerklärung mit. Nachdem ihre Mandantin jedoch Kenntnis vom Bruch der Vertraulichkeit durch die Behörden erhalten hatte, sei Manning klargeworden, dass es erforderlich sei, offen mit der Situation umzugehen. Es sollte nicht länger der Gegenseite überlassen bleiben, mit der willkürlichen Weitergabe bestimmter Informationen die Definitionsmacht über die Situation an sich zu reißen.
Aus diesem Grund autorisierte Manning ihre Anwälte, der Öffentlichkeit mitzuteilen, sie habe sich in der Vorwoche »entschieden, ihr Leben zu beenden«. Der Versuch sei gescheitert. Ihr sei klar, dass viele nun genauer wissen wollten, wie es ihr gehe. Sie könne dazu im Moment jedoch nur sagen, dass sie »unter strenger Beobachtung des Gefängnisses« stehe und erwarte, »dass dieser Zustand in den nächsten Wochen auch so bleiben wird«.
Mittlerweile gaben Verteidigung und das Chelsea-Manning-Solidaritätskomitee vorsichtig einige zusätzliche Informationen über die Ereignisse nach dem 5. Juli bekannt. Demnach war Manning, als sie am Morgen nach ihrem gescheiterten Suizidversuch aufwachte, überrascht, aber auch erleichtert, dass sie noch lebte. Sie sei sehr bewegt gewesen über die vielen Botschaften von Menschen, die besorgt um sie waren und ihr helfen wollten, »seelischen Schmerz und Hoffnungslosigkeit über ihre Situation zu überwinden und neuen Mut zu schöpfen«.
Verweigerte Hilfe
Die Befehlshaber von Fort Leavenworth hatten Manning nach eintägiger Notbehandlung in einer zivilen Klinik auf die Krankenstation des Militärgefängnisses zurückverlegen lassen, isoliert und unter »Dauerbeobachtung wegen psychischer Probleme« gestellt. »Allerdings wurde ihr dort genau die psychologische Hilfe verwehrt, die sie in ihrem mentalen Zustand dringend gebraucht hätte«, betonte das Solidaritätskomitee auf seiner Website. Denn als Manning am 23. Juli endlich jemanden von ihrem Unterstützungsnetzwerk anrufen konnte, hatte sie den für sie schon einige Zeit zuständigen Anstaltspsychologen seit mehr als einer Woche nicht gesehen, und ihr Zustand hatte sich wieder verschlechtert. Im Februar hatte sie gegenüber Amnesty International erklärt: »Ich habe das Gefühl, die ganze Zeit weggeschlossen zu sein, ohne Stimme und ohne meine Liebe und Unterstützung Leuten zeigen zu können, die sie brauchen. Ich könnte soviel tun, der Gesellschaft soviel geben. Ich verbringe jeden Tag damit, Hoffnung zu schöpfen, dass ich das eines Tages tun kann.«
Anfang Juli verließ die Gefangene offensichtlich die Kraft, auf diesen Tag zu hoffen. Just in diesen Tagen war auch der Psychologe, mit dem sie schon eine Weile intensive Gespräche über ihre Gefühlslage geführt hatte, mehrere Tage nicht im Dienst. Manning am Telefon zu der Person aus dem Unterstützungsnetzwerk: »Ich brauche Hilfe, aber ich bekomme sie nicht.«
Statt dessen wurde Manning am 28. Juli früh morgens schroff durch einen Wärter aus dem Schlaf gerissen, der ihr ein amtliches Schreiben übergab. Absender war der »Ermittlungsbeamte der Militärpolizei«. Ohne nähere Begründung informierte er die »Gefangene Nr. 89289 Manning, Chelsea« darüber, gegen sie werde »wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, Besitzes verbotener Habe und Einnahme einer bedrohlichen Gebärde« ermittelt. Die Vorwürfe konnten sich nur auf den Suizidversuch beziehen, aber Manning war bewusstlos aufgefunden worden, wie soll sie Widerstand geleistet haben? Später berichtete sie ihrer Anwältin, sie habe nach Vorwarnungen von Wärtern schon befürchtet, eine neue Anklage zu erhalten. Allerdings nicht so schnell und vor allem nicht zu diesem kritischen Zeitpunkt.
Zusätzlich zu dieser nervenaufreibenden Nachricht wurde Manning mitgeteilt, ihr Psychologe sei »wenigstens eine weitere Woche nicht im Dienst«. So blieb sie allein in ihrer Beobachtungszelle und völlig auf sich zurückgeworfen mit diesen schweren Beschuldigungen zurück, die in der Konsequenz zu fortwährender Isolierung führen könnten. Für Manning gerade in dieser Situation eine Horrorvorstellung, denn was Isolationshaft mit Menschen macht, hatte sie nach ihrer Verhaftung im Mai 2010 neun Monate lang erfahren und durchleben müssen.
Tatbestand der Folter
Die Auseinandersetzung über diese Phase strenger Isolationshaft hatte auch in ihrem Gerichtsverfahren breiten Raum eingenommen. Letztlich hatte sich diese Zeit sogar im Strafurteil niedergeschlagen. Denn nach Verkündung der Gesamtstrafe von 35 Jahren Gefängnis gab Richterin Lind bekannt, die dreieinhalbjährige Untersuchungshaft werde mit insgesamt 1.294 Tagen angerechnet, darin eingeschlossen eine weitere Reduzierung um 112 Tage als »Wiedergutmachung« für die zu Beginn der Haft erlittene neunmonatige Isolierung im Gefängnis der US-Marinebasis Quantico (Virginia). Diese Strafreduzierung sei zu gewähren, so Lind, da Manning in dieser Zeit »tatsächlich zeitweise rechtswidrig vor dem Prozess bestraft wurde«. Die Haftbedingungen seien »rigoroser als notwendig« und »zu exzessiv im Verhältnis zu den legitimen Sicherheitsinteressen des Staates« gewesen.
Die sogenannte Wiedergutmachung war zum einen eine Reaktion auf die Kritik, die von außen an Mannings Isolierung geübt wurde. So hatte Juan Méndez, der UN-Sonderberichterstatter für Folter, dem das Pentagon ein vertrauliches Gespräch mit Manning immer wieder verweigert hatte, im März 2012 in Genf das Ergebnis seiner vierzehnmonatigen Untersuchungen in seinem turnusmäßigen Bericht an die Vollversammlung der Vereinten Nationen erwähnt. Er war zu dem Schluss gekommen, dass »die Verhängung von verschärften Strafhaftbedingungen gegen jemanden, der keines Verbrechens schuldig gesprochen wurde, einen Verstoß gegen sein Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit und gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung« darstelle. Gegenüber dem britischen Guardian nannte Méndez die gegen Manning verfügte Isolationshaft damals »eine zumindest grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung und damit einen Verstoß gegen Artikel 16 der Antifolterkonvention«.
Auch Amnesty International und US-Kongressabgeordneten wie Denis Kucinich von der Demokratischen Partei hatte die Obama-Regierung seit 2011 vertrauliche Gespräche mit Manning verwehrt. Selbst dann noch, als Manning infolge des Drucks internationaler Proteste im April 2011 von der Marinebasis Quantico in das Militärgefängnis Fort Leavenworth in Kansas verlegt wurde, wo die Haftbedingungen etwas gelockert wurden.
Die Isolation Mannings sei »schlimmer als im Todestrakt«, sagte ein Psychiater der US-Marine mit Blick auf die Inhaftierung im Gefängnis der Marinebasis Quantico (Häftlingszelle in Fort Leavenworth)
Foto: EPA/FORT LEAVENWORTH PUBLIC AFFAIRS
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Hinter der Verweigerung unüberwachter Gespräche sah das Manning-Solidaritätsnetzwerk die Befürchtung offizieller Stellen, Mannings Behandlung könnte als Verstoß gegen UN-Konventionen und damit auch gegen die US-Verfassung und das Militärgesetz gewertet werden. Seine Isolierung in der Untersuchungshaft und seine mediale Vorverurteilung als »Hochverräter« stellten nach Meinung von Rechtsexperten eine Bestrafung ohne Prozess und damit einen klaren Rechtsverstoß der USA dar. Mannings Prozessanwalt David Coombs begründete damit mehrere Anträge, das Verfahren gegen Manning »wegen eines dauernden Prozesshindernisses sofort einzustellen«.
Den Gefangenen brechen
Natürlich kam es nicht zu einer solchen Wende. Die harte Linie gegenüber Manning sei darauf ausgelegt, so Coombs, seinen Mandanten unter Druck zu setzen und zu Aussagen zu bewegen, die sich gegen den Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, Julian Assange, verwenden ließen. Das Pentagon versuchte im Prozess damals den Eindruck zu vermitteln, Manning sei ein »Werkzeug« von Assange. Der wies diese Vorwürfe zwar immer wieder als politisch motiviert zurück, dennoch forderten rechtskonservative Medien und Politiker in den USA unentwegt, der Australier müsse an die USA ausgeliefert und dort vor Gericht gestellt werden. Mit einem in der Isolationshaft gebrochenen Manning als »Kronzeugen« und einem an die USA von Britannien oder Schweden ausgelieferten Assange wäre das den US-Behörden wesentlich leichter gefallen. Zu beidem kam es nicht, weil Assange im Juni 2012 in der Botschaft Ecuadors um politisches Asyl ersuchte. Und Manning ließ sich auch in der Isolationshaft weder brechen noch zum Werkzeug des Pentagon machen.
Dass dies ein harter Kampf für Manning war, bestätigte im Prozess auch die in langen Zeugenaussagen vorgetragene interne Kritik von Ärzten des Militärgefängnisses Quantico, die durchaus mit den Bewertungen des UN-Sonderermittlers Méndez korrespondierte. So hatte unter anderem Hauptmann Kevin Moore im Zeugenstand zu den Haftbedingungen ausgesagt, Mannings Isolierung sei »schlimmer gewesen als im Todestrakt«. Er könne das beurteilen, sagte Moore in seiner Eigenschaft als Psychiater der US-Marine, denn er habe zu Beginn seiner Berufslaufbahn »lange genug im Todestrakt gearbeitet«.
Moore und sein Kollege, Hauptmann William Hoctor, sagten übereinstimmend aus, die Leitung des Militärgefängnisses von Quantico habe ihre Empfehlungen ignoriert, die über Manning neun Monate lang verhängte Sonderbehandlung auszusetzen. Hoctor erläuterte im Zeugenstand, er habe beispielsweise gewarnt, dass die strenge Isolierung und der nächtliche Entzug der Kleidung den Häftling unter permanenten Stress gesetzt hätten. Manning sei »in keiner Weise depressiv oder eine Gefahr für sich« gewesen. Deshalb habe Hoctor gegenüber den für die Haft zuständigen Offizieren dringend dazu geraten, die Sonderbehandlung zu beenden und Manning den Umgang mit anderen Gefangenen und körperliche Bewegung außerhalb der Zelle zu genehmigen.
Hoctor hatte das in seinen wöchentlichen Berichten über Mannings Gesundheitszustand immer wieder vorgebracht, jedoch habe die militärische Führung darauf monatelang nicht reagiert. Oberst Robert Oltman, damals für die Sicherheit zuständiger Bataillonskommandeur in Quantico, habe ihm gesagt: »Wir machen, was wir für richtig halten«, und ihm befohlen, weiter seine Berichte zu schreiben. Er sei »seit langem nicht mehr derart verärgert gewesen«, so Hoctor, weil ein Bataillonskommandeur seinen fachlichen Rat so offen ausschlug und erklärte, die Isolierung »auf unbestimmte Zeit« beibehalten zu wollen. Ob das Risiko, Mannings Gesundheit zu gefährden, von den Verantwortlichen bewusst in Kauf genommen worden sei, hatte Anwalt Coombs den Zeugen weiter gefragt. Hoctor hatte das bejaht und erklärt, die Haftbedingungen hätten zu »unbeabsichtigten Konsequenzen« führen können, da »jeder seine Grenzen hat«, auch wenn Manning »stabil« gewesen sei.
Der Kommandeur des Marinestützpunkts, Oberst Daniel Choike, hatte zuvor im Prozess ausgesagt, man habe unabhängige Analysen der Haftbedingungen Mannings »ausschließen oder hinauszögern« wollen. Das sollte verhindern, dass die Verteidigung solche Berichte in der Presse »ausschlachtet«. Überraschend offen hatte Choike sich auch über die Rolle des Generalleutnants George Flynn ausgelassen, der vom Pentagon aus die Haftbedingungen Mannings festlegte. Flynn sei es primär darum gegangen, schon vor der Presse über alle Veränderungen an Mannings Haftsituation informiert zu werden und die Berichterstattung zu kontrollieren, so Choike.
Die militärische Laufbahn des seit 2013 im Ruhestand befindlichen George Flynn belegt, dass er nicht zufällig zum Herrn über die Haftbedingungen Mannings ernannt worden sein kann. Flynn gehörte zur obersten Führung des US-Marinekorps, unter US-Präsident George W. Bushs war er Stabschef des U. S. Special Operations Command (US-Socom), des Kommandos über alle US-Spezialeinheiten der Teilstreitkräfte. Unter Bushs Nachfolger Barack Obama wurde Flynn 2008 Vizegeneral des multinationalen Korps in Irak und leitete ab 2011 die Abteilung des Vereinigten Generalstabs, die Operationen mit den Geheimdiensten koordinierte. Das alles ließ sich anhand der Dokumente nachvollziehen, die Manning 2010 an Wikileaks weitergereicht hatte. Generalleutnant Flynn gehörte also nicht nur zu den höchsten Vorgesetzten Mannings im Generalstab des Pentagon, sondern war selbst direkt betroffen vom Handeln des Whistleblowers, den die Militärführung als »Verräter« und »Feind« ansieht, zumindest aber als »Unterstützer des Feindes«.
Nachahmer abschrecken
Vor dem Hintergrund der Funktion Flynns im US-Militärapparat hatte der Anwalt und Bürgerrechtler Kevin Zeese vom Solidaritätsnetzwerk im September 2012 erklärt, die Tatsache, dass ausgerechnet der Offizier, der so eng mit Geheimdiensten kooperierte, die Befehle für Mannings Haftbedingungen erteile, werfe »drängende Fragen über den Zweck dieser Misshandlungen in der Haft auf«.
Auch Zeese äußerte damals auf der Website des Unterstützungsnetzwerks die Vermutung, Manning sei »gefoltert worden, um ihn zu brechen, damit er sich schuldig bekennt und als Kronzeuge gegen Julian Assange einsetzbar wäre«. Mit den Ermittlungsergebnissen von Mannings Verteidiger David Coombs, dass nicht etwa der Kommandeur des Militärgefängnisses, sondern »ein ›Dreisternegeneral‹ des Pentagon die Entscheidungen über die Haftbedingungen traf«, hätten diese Einschätzungen »größere Glaubwürdigkeit erhalten«. Coombs hatte die Hinweise auf Flynn dem E-Mail-Verkehr in Quantico entnommen, den die Staatsanwälte des Pentagon der Verteidigung zunächst vorenthalten hatten, der nach Insistieren von Coombs aber als Beweismittel zu den Akten gegeben werden musste.
Durch die beharrliche Arbeit der Verteidigung und den öffentlichen Druck, den die internationale Solidaritätsbewegung erzeugte, war es weder Generalleutnant Flynn noch seinen Handlangern gelungen, Manning in der Isolationshaft zu brechen oder umzudrehen. Die Ankläger hatten sich auch nicht mit den von ihnen beantragten 60 Jahren Gefängnis durchsetzen können, die einer lebenslangen Haft gleichgekommen wären. Dennoch wurde an dem damals 25jährigen Whistleblower mit der Verurteilung zu 35 Jahren Haft ein Exempel statuiert, das ihn sein Leben kosten könnte, wie sich jetzt gezeigt hat. Wer es wagt, Kriegsverbrechen der USA öffentlich zu machen, »die per definitionem niemals bestraft werden«, der wird »durch die Hölle gehen«, wie es der Blogger Pepe Escobar im Internet ausdrückte. Escobar sprach schon 2013 davon, mit der jahrzehntelangen Haft werde Manning »gelyncht«.
Denen, die Manning in ihrer jetzigen Situation notwendige Hilfe versagen, geht es offensichtlich darum, den »gebrochenen« Menschen vorzuführen, wie der perfide Umgang des US-Militärs mit den Informationen über den Suizidversuch deutlich gemacht hat. »Seht her, so enden Whistleblower«: isoliert in einer Psycho-Beobachtungszelle wie Manning, jahrelang seiner Freizügigkeit beraubt wie Assange in der Botschaft Ecuadors in London oder ebenso zu politischem Asyl gezwungen wie der NSA-Enthüller Edward Snowden. Es gibt nur ein Ziel: weitere Militärs, Geheimdienstler oder sonstige Staatsbedienstete davon abzuschrecken, dem mutigen Beispiel dieser Whistleblower zu folgen. Vor diesem Hintergrund und der Tatsache, dass unter der Regierung Obama Whistleblower so zahlreich und gnadenlos verfolgt wurden wie nie zuvor, kann es nur als klug und konsequent bezeichnet werden, wenn sich Assange, Snowden und noch unbekannte Whistleblower davor hüten, sich den US-Behörden auszuliefern.
Aufruf zur Solidarität
Gleichzeitig darf die Solidarität mit den Angegriffenen nicht nachlassen. Die internationale Solidarität mit Chelsea Manning war sehr stark, solange der Prozess Aufmerksamkeit erzeugte, flaute aber danach wieder ab. Das haben jetzt auch die begriffen, die sich erneut aktiv und schützend um Manning scharen und am 10. August dem US-Verteidigungsministerium eine Petition mit mehr als 115.000 Unterschriften übergaben. Darin wird gefordert, Manning nicht wegen ihres Suizidversuchs zu bestrafen, sie schon gar nicht weiter zu isolieren (siehe www.fightforthefuture.org).
Daniel Ellsberg, der frühere Whistleblower, der 1971 die Pentagon Papers über den Vietnamkrieg enthüllte, sagte laut dem britischen Guardian, die neuen Anklagepunkte gegen Manning seien wohl »darauf ausgelegt, sie als Menschen zu brechen«. Die Vorwürfe seien »sadistisch und abscheulich«, und ihre ganze Behandlung in der Militärhaft empöre ihn. Ellsberg und andere Unterstützer sprachen anlässlich der Übergabe der Petition mit Reportern darüber, dass sie für Manning auch eine »angemessene Behandlung nach ihrem Suizidversuch und bei ihrer Geschlechtsumwandlung« fordern. Anwalt Chase Strangio von der American Civil Liberties Union erklärte, seine Mandantin erwarte zunächst eine disziplinarische Anhörung, bei der sie jedoch nicht anwaltlich vertreten werden dürfe. Die Vorstellung, dass der Staat sie dafür bestrafen könnte, einen Suizidversuch überlebt zu haben, nannte Strangio »völlig unerträglich und ungeheuerlich«. Der Staat scheine alles in seiner Macht Stehende zu tun, Mannings »physischen und mentalen Zustand zu verschlimmern«. Ellsberg brachte seine persönliche Bewunderung für Manning zum Ausdruck. Es gebe sicher Unterschiede, was die damalige und die heutige Situation betreffe, »aber es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem, wie sie und ich gehandelt haben«. Er würde gern »mehr Chelsea Mannings« sehen, fügte Ellsberg hinzu, »aber offensichtlich will die Regierung genau das Gegenteil«.
Quelle: https://www.jungewelt.de/2016/08-23/052.php