Tag Archives: Gefangenen Info

INTERVIEW: Rückblick RAF – Kontinuität eines Standpunktes … Wolfgang Lettow im Gespräch

raf.grab

Gespräch am 22. Oktober 2017 in Hamburg

Am 22. Oktober fand im Hamburger Centro sociale eine Informations- und Diskussionsveranstaltung zu den im Herbst 1977 in den Knästen Stuttgart-Stammheim und München-Stadelheim tot aufgefundenen Gefangenen aus der RAF statt. [1] Wolfgang Lettow, der zu den Organisatoren und Referenten der Zusammenkunft gehörte, beantwortete dem Schattenblick im Anschluß daran einige vertiefende Fragen.
Schattenblick (SB): Wolfgang, es ging bei der heutigen Veranstaltung um die Frage, was wir aus der Geschichte lernen können. Warum sind die historischen Ereignisse, über die wir gesprochen haben, aus deiner Sicht so wichtig?
Wolfgang Lettow (WL): Die Geschichte der RAF, des bewaffneten Kampfs hier in Deutschland, hat etwas mit der 68er-Bewegung zu tun, die eine bundesweite Erhebung war. Das war sozusagen die Voraussetzung, daß bewaffnete Gruppen auch hier in Deutschland, in Westeuropa, in Nordamerika, sich verbunden gefühlt haben mit den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt. Und diese Geschichte, insbesondere aber, was die Ereignisse des 18. Oktober 1977 in Stammheim betrifft, wird von den Herrschenden tabuisiert. Ich habe in meiner Eigenschaft als presserechtlich Verantwortlicher des “Gefangenen Info” (GI) [2] ausgeführt, daß wir nichts schreiben dürfen, was in Widerspruch zur Selbstmordthese steht, und es deswegen mehrere Verfahren gegen unsere Zeitschrift gab. Wir wollten daher einerseits einen Kontrapunkt setzen, weil die herrschende Meinung nicht unsere Meinung ist. Zum anderen gibt es die RAF seit 1998 nicht mehr, und es fehlt eine gemeinsame Aufarbeitung. Es interessieren sich jedoch viele Leute für die RAF, die aufgrund ihres Alters die damaligen Kämpfe nicht selbst miterlebt haben. Da wir die notwendige gemeinsame Aufarbeitung nicht leisten können, haben wir eine “Kurze Einführung in die Geschichte der RAF” für jüngere Leute als Buch herausgegeben, damit sie sich damit auseinandersetzen können. Es ist ein Teil unserer Geschichte, und wir haben festgestellt, daß unaufgeklärte Todesfälle im Gefängnis nicht auf die RAF beschränkt sind. So etwas passiert nicht nur politischen Gefangenen, sondern insbesondere auch migrantischen Häftlingen wie Oury Jalloh. Darüber eine Öffentlichkeit zu schaffen ist sehr wichtig. Wir können froh sein, daß es bei G20 keine Toten gab. Bei den Überlegungen im Vorfeld wurde nicht einmal ein möglicher Gebrauch von Schußwaffen völlig ausgeschlossen. Es ist sehr wichtig, den Blick für die Frage zu schärfen, mit was für einem Staat wir es hier zu tun haben. Er ist zwar in der Theorie dem “scheinbar liberalen” Grundgesetz verpflichtet, doch in der Praxis mutiert er zum Polizeistaat mit Feindstrafrecht, wie Anwältinnen und Anwälte sagen.
SB: Die Geschichte der RAF wurde von Stefan Aust und anderen uminterpretiert und gewissermaßen neu geschrieben. Wie ist sie aus deiner Sicht in der deutschen Öffentlichkeit insgesamt verarbeitet worden?
WL: Von Anfang an war eine authentische Vermittlung der Geschichte der RAF und der Haftbedingungen der Gefangenen stets sehr schwierig. Die ersten Schriften wurden zum Teil bei Wagenbach verlegt, das war zunächst das Konzept Stadtguerilla. Wenn ich mich recht erinnere, wurde bereits die zweite Schrift beschlagnahmt. Es war zum einen nicht möglich, öffentlich darüber zu reden. So gibt es Zitate entsprechender Aussagen von offizieller Seite, daß nichts Authentisches publiziert werden darf. Geduldet wurde nur eine Umdeutung, beispielsweise in Gestalt der Personalisierung, daß Andreas Baader ein Macho war und Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin ihm hörig gewesen seien. Eine authentische Vermittlung über die RAF und wofür sie steht, wurde von Beginn an verhindert und kriminalisiert. In dieses Vakuum sind Leute wie Stefan Aust gestoßen, der von so etwas gut leben kann und ganz offen mit der Polizei zusammenarbeitet. Auch Gerd Koenen oder Wolfgang Kraushaar versuchen, die Geschichte umzuschreiben, um den Aufbruch, der damals stattfand und zum bewaffneten Kampf führte, zu verfälschen.
SB: Menschen, die damals verurteilt wurden und ihre Haftstrafe verbüßt haben, sind im Zuge neuer Verfahren erneut der Strafverfolgung unterworfen worden. Die Frage der Täterschaft soll neu aufgerollt und bis ins Detail ermittelt werden. Müssen diese Menschen bis ans Ende ihrer Tage unter dem Damoklesschwert leben?
WL: Ich kann nicht für sie sprechen, weiß aber, daß es für sie klar war, als Kollektiv gehandelt zu haben. Für sie war es sekundär, wer was gemacht hat. Sie stehen für eine gewisse Etappe, in der sie in der RAF organisiert waren. Sie bekennen sich zu ihrer Verantwortung, unabhängig davon, wie genau ihre Beteiligung war. Nach dem Verständnis, das sie vermittelt haben, wurden die Aktionen gemeinsam beschlossen und dann durchgeführt. In diesem Sinne ist jeder und jede dafür verantwortlich gewesen. Wie sie später erpreßt wurden, zeigt unter anderem das Beispiel von Christa Eckes, die an Blutkrebs erkrankt war und im Sterben lag, als sie dennoch von der Bundesanwaltschaft verhört wurde. Sie hat die Aussage verweigert. Für die Gefangenen aus der RAF, die erhobenen Hauptes durchs Leben gehen, war von Anfang an klar, wenn sie sich in der Gruppe organisieren, werden sie entweder den Knast nicht überleben oder ihr Leben lang verfolgt. Das war ihre politische Entscheidung, das wissen sie. Insofern war das eine Entscheidung, die sie auch 20 Jahre später nach Auflösung der RAF beibehalten, soweit ich das mitkriege.
SB: Die ARD hat in Dominik Grafs Stuttgarter “Tatort: Der rote Schatten” die Todesnacht von Stammheim für ein breites Fernsehpublikum thematisiert. Wie bewertest du diese Verarbeitung in Gestalt eines zeitgenössischen Krimi-Szenarios?
WL: Zur Sprache kam im Tatort die Selbstmordvariante, aber andererseits auch die Möglichkeit, daß die Gefangenen von einem Spezialkommando liquidiert worden sein könnten. Daß diese Frage überhaupt in dieser Form thematisiert wird, ist auf jeden Fall zu begrüßen. Andererseits entspricht die Darstellung der Leute, die der RAF auch nach deren Auflösung zugerechnet werden, natürlich nicht der Realität. Es wurde sehr viel mit Sex & Crime gearbeitet, was nach meiner Erfahrung, die ich mit ehemaligen Gefangenen der RAF gemacht habe, nicht der Wahrheit entspricht. Es wurde wieder ein grob verzerrtes Bild gezeichnet, aber trotz alledem ist es ein erster Schritt. Die Reaktion von höchster Stelle, von Steinmeier und dann auch von Aust, der ja öffentlicher Meinungskommissar ist, zeigte, daß im Tatort etwas Richtiges angesprochen wurde. Wir haben in der Diskussion über Helge Lehmann [3] gesprochen, der Mitte der 1960er Jahre geboren wurde und daher die Ereignisse erst in ihrer späteren Darstellung mitbekommen hat. Seine Zweifel an der Version des Staates, auf welche Weise sich die Gefangenen umgebracht haben sollen, veranlaßten ihn, die offiziellen Angaben unter anderem mit Hilfe praktischer physikalischer Versuche nachzustellen. Er kam nach gründlicher Untersuchung zu dem Schluß, daß es so nicht gewesen sein kann, was er dann in Form eines Buches publiziert hat. Insofern war der Tatort überraschend, denn er hat etwas zur Sprache gebracht, was lange versiegelt schien, aber weiter verfolgt werden sollte.
SB: Du verfügst über eine langjährige Praxis, diese Thematik nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Was sind deine Erfahrungen mit solchen Veranstaltungen wie der heutigen? Wie hat sich das Interesse an diesen Inhalten über die Jahre verändert?
WL: Ich denke, wenn nach 40 Jahren immer noch mehr als 40 Leute kommen – trotz der ganzen Desinformation -, ist es auf jeden Fall wichtig, weiterhin solche Veranstaltungen zu machen. Wir haben eine entsprechende Veranstaltung in Bremen gehabt, wo insbesondere die Frage, was diese Geschichte mit heute zu tun hat, auf großes Interesse innerhalb der Linken gestoßen ist. Die Rote Hilfe Zeitung hat wegen unserer Intention bei uns einen Artikel angefragt. Es ist wichtig, den Staat so zu bezeichnen, wie er tatsächlich ist. Er konstruiert ja ein Bild von sich, das so nicht stimmt. Ich kann in diesem Zusammenhang noch eine Sache erzählen: Ich arbeite bei einem freien Radio in Hannover mit. Dabei hatte ich eine Erklärung zu den dreien verlesen, die der RAF zugerechnet und noch gesucht werden. [4] Daraufhin gab es einen heftigen Angriff gegen dieses Radio, das natürlich eine viel größere Reichweite als eine Veranstaltung hat. Die Sendung wurde als Podcast bei freien Radios veröffentlicht und erreichte dadurch Menschen im deutschsprachigen Raum von Hamburg bis Zürich und Wien. Der Sender wurde in einer ersten Reaktion unter Druck gesetzt, obgleich der gesendete Text schon beim “Gefangenen Info” durch die staatliche Zensur gegangen war. Der NDR-Journalist Stefan Schölermann, der sich rühmt, gute Kontakte zum Staatsschutz zu haben – natürlich rein professionell – hat eine Anfrage an das freie Radio gestellt, um den Sender unter Druck zu setzen. Auf diese Weise soll verhindert werden, daß unsere Öffentlichkeit, die bei Veranstaltungen natürlich nur auf bestimmte Bereiche wie hier in linken Zentren im Schanzenviertel oder Karoviertel beschränkt ist, beim freien Radio über diese Szene hinausgeht. Das heißt mit anderen Worten, daß es sehr wichtig ist, solche Veranstaltungen wie die heutige durchzuführen und die Informationen im freien Radio für breitere Kreise zu senden.
Die Geschichte wird nicht nur um ihrer selbst willen bewahrt, denn es geht ja um einen neuen Aufbruch, dessen Inhalte von denen bestimmt werden, die sagen, wir halten es nicht mehr aus. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Geschichte der RAF kritisch, aber auch solidarisch aufzuarbeiten. Wir haben in unserer Zeitung “Gefangenen Info” verschiedene Gefangene und Gruppen angesprochen, worauf es in nur einem Monat sechs Beiträge gab, vier von Gefangenen: Yusuf Tas, ein türkischer Gefangener, ein Beitrag von Thomas Meyer-Falk, einer von einer Frau, Lisa, die wegen Bankraub festgenommen wurde, und einer von Manfred Peter, der sich seit über 20 Jahren in der Forensik befindet. Die Rote Hilfe Italien hat sich ebenfalls beteiligt. Dort war nach dem 18. Oktober klar, daß es Mord war, und es hat sehr viel Solidarität gegeben. In zehn italienischen Städten wurden damals binnen kurzer Zeit Demonstrationen und militante Aktionen organisiert. Geschrieben hat auch die Gruppe Siempre Antifa aus Frankfurt, das ist eine etwas jüngere Organisation, deren Mitglieder 1977 noch gar nicht geboren waren, und die sich nun mit den Texten sehr konstruktiv, solidarisch und auch kritisch auseinandergesetzt haben. Um etwas Neues zu beginnen, muß man auch die alte Geschichte kennen und aufarbeiten.
SB: Bei der Veranstaltung im Centro sociale war einerseits natürlich die ältere Generation sehr präsent, es waren aber auch etliche jüngere Leute da. Entspricht diese Zusammensetzung deinen Erfahrungen in Bremen und bei früheren Veranstaltungen?
WL: Das Interesse ist auch bei jüngeren Leuten durchaus vorhanden. Sie äußeren sich allerdings zu diesem Thema zunächst wenig, weil sie es nicht so genau kennen. Wir hatten jedoch die Verbindung zu den G20-Protesten, an denen sie sich beteiligt haben. Aus diesem Zusammenhang sind heute jüngere Leute gekommen, die uns von dorther kennen. Es ist zwar nicht ihre eigene Geschichte, sie wollen aber etwas darüber wissen.
SB: Gibt es angesichts der G20-Gefangenen einen Anknüpfungspunkt, die Frage der Haft und insbesondere der politischen Häftlinge aufzugreifen und umfassender zu thematisieren?
WL: Wie mensch sich bei politischen Prozessen verhält, ist stets die Entscheidung der Betroffenen selbst. Es gibt Broschüren zum Thema, wie mensch sich bei solchen Prozessen verhält, inwieweit mensch Einlassungen macht und wie es damals gewesen ist. Daran besteht auf jeden Fall Interesse, und darüber hinaus muß man sich weiter auseinandersetzen.
Es ist schon hart, wenn AktivistInnen für einen Flaschenwurf auf einen gepanzerten Polizisten ein halbes Jahr in U-Haft sitzen oder eine Bewährungsstrafe kriegen. Das ist auf jeden Fall politisch anzugreifen. Der heutige Bezug ist jedenfalls in Hamburg und Bremen da, und wir müssen sehen, wie es weitergeht.
SB: Wie gehst mit deinem Informationsvorsprung hinsichtlich der Geschichte der politischen Gefangenen um, ohne belehrend rüberzukommen?
WL: Wir haben durch unsere Veranstaltungen Leute angesprochen, die unsere Idee gut fanden und sich mit Beiträgen an der Diskussion beteiligen wollen. Es ging uns eben nicht nur um die damalige Geschichte, sondern auch darum, eine Verbindung zu heute zu ziehen. Bei G20 haben die Leute gesehen, daß wir gewisse Erfahrungen haben. Auch wenn mensch nicht in politischer Hinsicht in allem übereinstimmt – ich drücke mich jetzt etwas vorsichtig aus – würde ich dort etwas sagen wollen, wo ich auch involviert bin. Dabei akzeptiere ich durchaus Positionen, die ich nicht unbedingt teile. Ich glaube, ich kann nur etwas sagen, wenn ich auch als älterer Mensch an heutigen Kämpfen beteiligt bin. Das ist dann auch nicht aufgesetzt oder vom Sessel aus.
SB: Hast du schon Pläne für die Zukunft, was Themen, Publikationen oder Veranstaltungen betrifft?
WL: Dieses Jahr wird es noch eine Veranstaltung in Leipzig geben. Im “Gefangenen-Info” wird ein Beitrag der heutigen Veranstaltung “Haben die Aussagen der Gefangenen aus der RAF heute noch Gültigkeit?” veröffentlicht. Zusätzlich werden wir von weiteren türkischen Gefangenen aus dem Münchener ATIK-Prozeß Beiträge publizieren. Auch gibt es erfreulicherweise noch zwei Texte von jüngeren Menschen.
SB: Wolfgang, vielen Dank für dieses Gespräch.
Fußnoten:
[1] Siehe dazu:
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0295.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0296.html
[2] Zu beziehen über kontakt@political-prisoners.net (Kostet 5 EUR.)
[3] Zur “Todesnacht in Stammheim” (Helge Lehmann) siehe:
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prbe0126.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0139.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0141.html
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0143.html
[4] Bei den dreien soll es sich um Burkhard Garweg, Daniela Klette und Ernst-Volker Staub handeln.
29. November 2017

*Quelle: http://political-prisoners.net/item/5618-interview393-rueckblick-raf-kontinuitaet-eines-standpunktes-wolfgang-lettow-im-gespraech-sb.html

Ulrike Meinhof lebt!

Ulrike wäre am 7. Oktober 2014 80 Jahre alt geworden.

Viel ist schon zu ihr geschrieben worden und ich denke, sie wird präsent in den Herzen und Köpfen der revolutionären Linken weltweit bleiben. Nicht nur bei denen, sondern auch bei Einigen, die anfangen, sich zu wehren.

Wie soll ich zu Ulrike schreiben? Wie können wir sie, eine Revolutionärin, angemessen würdigen?
Am einfachsten ist es ist für mich, einige Stationen ihres Lebens zu skizzieren, die vor allem mir wichtig waren. Mir ist dabei bewusst, dass das alles nur Auszüge sein können.

1967/1968

Während einer Demonstration gegen den Besuch des Schah von Persien am 2. Juni 1967 in Westberlin wurde der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen.
Die Erschießung Ohnesorgs war ein Fanal für Viele aus meiner Generation: wir begriffen, was für ein Staat die BRD ist – kein demokratischer Staat, sondern autoritär, der nie mit dem Faschismus gebrochen hatte, denn viele ehemalige Nazis wie Kiesinger, Lübke, Globke, Buback oder Schleyer übten wichtige Funktionen im sogenannten Rechtsstaat aus. Die Regierung der BRD war natürlich für das Folterregime Iran ein wichtiger Handelspartner.
Der Polizist Kurras wurde wegen der Erschießung von Benno nie belangt.
Die BRD war für die USA ein wichtiger Militärstützpunkt, ein Drehkreuz, von wo aus die USA die Bombenangriffe gegen die Bevölkerung Vietnams koordinierte. 1972 griff deshalb die RAF, in der Zeit war auch Ulrike dort organisiert, zwei US-Stützpunkte in Frankfurt und Heidelberg an.
Mir empfahlen FreundInnen nach dem 2. Juni 1967, die Artikel von Ulrike in der Zeitschrift “Konkret” zu lesen. Vieles war mir als knapp 17-jährigem in der Zeitschrift neu und unverständlich. Doch über Ulrikes Texte bekam ich langsam einen Begriff von der Situation und fing an, mich zu politisieren.
Die Reportagen Ulrikes über Heime, über proletarische Jugendliche, waren mir wichtig. Ihr Film “Bambule”, über eine Rebellion in einem Heim für heranwachsende Frauen, durfte 24 Jahre nicht im Fernsehen gezeigt werden, weil Ulrike sich kurz vor Aufführung im Fernsehen der RAF angeschlossen hatte.
Viele von uns, so auch ich, haben später ähnliche Arbeiten mit unterprivilegierten Jugendlichen gemacht. In Hamburg holten wir z. B. 1973 Jugendliche aus Heimen raus, die dann mit uns zusammen das Haus in der Ekhofstraße besetzten und militant verteidigten.
Ein knappes Jahr später, am 10. April 1968, schoss ein durch die Springer-Presse, Berliner Senat und Bundesregierung aufgehetzter Arbeiter auf den bekanntesten Sprecher der Außerparlamentarischen Opposition (APO) Rudi Dutschke und verletzte ihn lebensgefährlich.
An diesem Tag nahm ich mit Freunden an meiner ersten Demonstration teil, gemeinsam blockierten wir den Springerverlag in Hamburg, um die Auslieferung dieser Hetzblätter zu verhindern. Ulrike begleitete diese Aktionen nicht nur journalistisch, sondern war selbst auf der Straße. Im Grunde fing sie schon damit an, die Aufhebung von Kopf- und Handarbeit zu praktizieren und damit die Fessel und damit den Bruch des bürgerlichen Leben zu forcieren.
Ende des Jahres 1968 wurde deutlich, dass diese anti-autoritäre Bewegung an Grenzen stieß. Sie splitterte sich in verschiedene Organisationen auf. Schon in dieser Zeit berichtete sie in “Konkret” über eine Aktion gegen Kaufhäuser. Andreas Baader und Gudrun Ensslin und zwei weitere Männer zündeten aus Prostest gegen den Konsumterror und den Vietnamkrieg 2 Kaufhäuser in Frankfurt an. Sie wurden alle zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt
Ulrike schrieb in “Konkret” 14/1968 dazu:
„Das progressive Moment einer Warenhausbrandstiftung liegt nicht in der Vernichtung der Waren, es liegt im Gesetzesbruch…
Es bleibt aber auch, was Fritz Teufel auf der Delegiertenkonferenz des SDS gesagt hat: es ist immer noch besser, ein Warenhaus anzuzünden, als ein Warenhaus zu betreiben. Fritz Teufel kann manchmal wirklich sehr gut formulieren.“
Anfangs war diese Kaufhausaktion in der Protestbewegung sehr umstritten, selbst der SDS, die radikalste Studentenorganisation, distanzierte sich. Das änderte sich und Ulrikes Artikel haben bestimmt dazu beigetragen. Es zeigt sich an diesem Artikel aber auch, dass über die Anwendung von revolutionären Interventionsmethoden breit diskutiert wurde, d. h. die später entstehenden bewaffneten Gruppen wie die RAF oder die „Bewegung 2. Juni“ waren Ergebnisse davon und agierten weltweit mit anderen Guerillagruppen gegen den Imperialismus.
Das Zitat von Fritz drückt auch aus, dass das Leben im Kapitalismus für viele damals keine Perspektive war, im Grunde das, was heute mit „Kapitalismus tötet!“ bezeichnet wird.

RAF

Am 14. Mai 1970 wurde Andreas Baader, der wegen der militanten Aktion gegen Kaufhäuser eingesperrt war, in Berlin befreit. Das ist sozusagen die „Geburtsstunde“ der RAF.
Als Gefangene sagte Ulrike Meinhof 1974 im Prozess dazu:
„unsere aktion am 14. mai 1970 ist und bleibt die exemplarische aktion der metropolenguerilla. in ihr sind/waren schon alle elemente der strategie des bewaffneten, antiimperialistischen kampfes enthalten: es war die befreiung eines gefangenen aus dem griff des staatsapparats. ….war exemplarisch, weil es im antiimperialistischen kampf überhaupt um gefangenenbefreiung geht, aus dem gefängnis, dass das system für alle ausgebeuteten und unterdrückten schichten des volkes schon immer ist und ohne historische perspektive als tod, terror, faschismus und barbarei;“
http://www.labourhistory.net/raf/read.php?id=0019710501

Ulrike kannte ich ja nicht persönlich, sondern nur durch ihre Artikel. Ich konnte trotzdem ihren Schritt in die RAF gut nachvollziehen. Sie redete nicht nur von Umsturz, sondern versuchte, das auch praktisch werden zu lassen.

Des-Informationspolitik der Herrschenden

Viele Militante hatten Kinder: Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ilse Schwipper oder Willy Peter Stoll.
Natürlich versuchten oft die Medien, Polizei und Geheimdienste, die Militanten generell wegen ihrer Kinder zu erpressen und/oder zu diffamieren. Das betraf auch Ulrike. Einmal, weil sie selbst zu den Waffen griff und zum Anderen, weil sie als Frau ihre Kinder zurück ließ.
Tauchten KämpferInnen ab, um den Kampf mit anderen Mittel weiterzuführen, sorgten sie dafür, dass es für die Kinder eine gute Lösung gab.
Wenn die Kontakte auf Grund dieser Bedingungen beendet werden, ist es für beide Seiten nicht einfach, eine optimale Lösung für die Eltern und Kinder zu finden.
Klar war, die zurückgelassenen Kindern sollten gut unterkommen, sei es bei linken GenossInnen oder korrekten Verwandten.
So erzählte der kommunistische Schriftsteller Christian Geissler in einem Radiointerview 2005, dass sich Ulrike kurz vor ihrem Schritt in die RAF viele Gedanken um ihre zurückgelassene Kinder machte.
So sollten ihre Kinder in ein Palästinenserlager gebracht werden, was bekanntlich durch Stefan Aust, der eng mit den Geheimdiensten zusammenarbeitet, verhinderte wurde.
http://www.political-prisoners.net/nullaefinito/Christian_Geissler/Interview_mit_Christian_Geissler.mp3
Nach der Verhaftung von Illegalen wurde teilweise der Kontakt zu den Kindern wieder aufgenommen.

Was tun

Ich hatte ja schon die Zersplitterung der radikalen Linken Ende der sechziger Jahre angesprochen: viele gingen in die SPD oder DKP und Andere gründeten kommunistische Gruppen. All diese Ansätze waren entweder opportunistisch und/oder revisionistisch. Kurzum, sie hatten nichts mehr mit den progressiven Inhalten der APO zu tun: anti-kapitalistisch, antagonistisch und internationalistisch.
Wir hingegen versuchten, unsere Praxis mit der Politik der Guerilla zu verbinden.
Da war es nur konsequent, die Gefangenen aus der RAF aus den Isolationsbunker heraus zu kämpfen. Ich schloss mich deshalb den „Komitees gegen Folter an den politischen Gefangenen in der BRD“ an.
Nach der Festnahme zahlreicher Mitglieder aus der RAF wurde mit strikter Isolation und Sonderbehandlung versucht, die Gefangenen zu brechen und zu zerstören. Ulrike wurde am 15. Juni 1972 in Hannover durch Verrat verhaftet.
Die Weggesperrten aus der RAF wurden in verschiedenen Knästen vollständig isoliert. Ulrike z. B. wurde im „Toten Trakt“, d. h. in einem leeren, unbelegten, von der restlichen Anstalt auch räumlich isolierten Trakt der JVA Köln-Ossendorf, eingesperrt. Sie wurde von jeglicher Außenwelt akustisch und visuell abgeschnitten. Ihre Zelle war vollständig weiß gestrichen. Es war ihr verboten, Bilder, Kalender o. ä. an die Wände zu hängen. Das Fenster ließ sich gar nicht, später nur einen winzigen Spalt, öffnen, davor engmaschige, kaum durchsichtige Fliegengaze. Die Neonbeleuchtung wurde auch nachts nicht abgeschaltet. Im Winter war die Zelle permanent unterkühlt.
Zu den Wirkungen dieser wissenschaftlich ausgeklügelten „Weißen Folter“ schreibt Ulrike Meinhof in einem Brief: „Das Gefühl, es explodiert einem der Kopf … Das Gefühl, es würde einem das Rückenmark ins Gehirn gepresst, das Gefühl, das Gehirn schrumpelt einem allmählich zusammen, wie Backobst z. B., das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man würde ferngesteuert – das Gefühl, die Assoziationen würden einem weggehackt – das Gefühl, die Zelle fährt. …. Rasende Aggressivität, für die es kein Ventil gibt. Das ist das Schlimmste. Klares Bewusstsein, dass man keine Überlebenschance hat; völliges Scheitern, das zu vermitteln; … Das Gefühl, es sei einem die Haut abgezogen worden.“
Uns gelang es durch zahlreiche Aktionen, neben Ulrike die insgesamt acht Monate da drin war, auch Gudrun Ensslin, die mit ihr drei Monate zusammen im Toten Trakt isoliert war, heraus zu holen.
Isolationsfolter wurde also systematisch 1972 gegen die Gefangenen aus der RAF, der „Bewegung 2. Juni“ und später auch gegen Gefangene aus dem anti-imperialistischen Widerstand angewandt.
Die Inhaftierten kämpften dagegen in zehn kollektiven Hungerstreiks gegen die rigiden Bedingungen.
Wir konnten trotz unseres vielfältigen Widerstandes weder die Isolation stoppen, noch verhindern, dass neun Gefangene aus diesen Zusammenhängen den Knast nicht überlebten.

Der Tod Ulrike Meinhofs

Am 8. Mai 1976 wird Ulrike Meinhof in ihrer Zelle tot aufgefunden. Eine internationale Untersuchungskommission, die im übrigen durch die deutschen Behörden auf verschiedenste Art und Weise behindert wird, kommt u. a. zu folgendem Ergebnis:
„Die Behauptung der staatlichen Behörden, Ulrike Meinhof habe sich durch Erhängen selbst getötet, ist nicht bewiesen, und die Ergebnisse der Untersuchungen der Kommission legen nahe, dass sich Ulrike Meinhof nicht selbst erhängen konnte. Die Ergebnisse der Untersuchungen legen vielmehr den Schluss nahe, dass Ulrike Meinhof tot war, als man sie aufhängte, und es beunruhigende Indizien gibt, die auf das Eingreifen eines Dritten im Zusammenhang mit diesem Tod hinweisen. … jeder Verdacht (ist) gerechtfertigt angesichts der Tatsache, dass die Geheimdienste – neben dem Gefängnispersonal – Zugang hatten zu den Zellen des 7. Stocks, und zwar durch einen getrennten und geheimen Eingang.“
http://www.labourhistory.net/raf/documents/0019760508_03.pdf

Trotzdem wurde und wird offiziell und medienwirksam Ulrike Meinhofs Tod als Selbstmord dargestellt.

Was bleibt

Sei es die Ausbeutung und die Kriege im Trikont, im Inneren die Gewalt und die Unterdrückung auf den Straßen, die Verschärfung in den Heimen und den Knästen – gegen all das hat sich Ulrike gewehrt.
All diese Bedingungen haben sich nicht verbessert, sondern in den letzten 25 Jahren eher noch verschärft und warten auf revolutionäre Veränderungen!
So wird die Isolation „Made in Stammheim“ auch weiterhin gegen Gefangene hier eingesetzt. Die Maßnahmen bekommen vor allem die §129b Gefangenen und die rebellischen Eingesperrten zu spüren. Die Isolationsfolter wird von der BRD in andere Länder exportiert, wie im Sommer nach Griechenland.
Das alles sind Gründe, gegen die Ulrike mit Anderen kämpfte, es liegt an uns, diesen Kampf um Befreiung weiter zu führen.
Machen wir uns keine Illusionen, der Weg dahin wird lang und hart sein!

“was die herrschende klasse an uns hasst, ist, dass die revolution trotz hundert jahre repression, faschismus, antikommunismus, imperialistischer kriege, völkermord wieder ihren kopf erhebt” (aus der Rede von Ulrike am 13. 9. 74 vor Gericht in Berlin wegen der Befreiung von Andreas Baader)

Ulrike lebt!

Redaktion des Gefangenen Info

Quelle: http://political-prisoners.net/item/3158-ulrike-meinhof-lebt.html