Die 2014 gegründete Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation kämpft für Mindestlohn, Sozialversicherung und Koalitionsfreiheit für Inhaftierte
Von Oliver Rast
Die Gründung erfolgte per Handschlag zwischen zwei Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel im Berliner Stadtteil Reinickendorf: von Mehmet-Sadik Aykol und mir. Kurz nach dem Bekanntwerden der Gründung der »Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation« (GG /BO) gab es Zellenrazzien in der Tegeler Anstalt. Der Beißreflex der Vollzugsbehörde war einkalkuliert – und von da ab waren wir in der Haftanstalt und über die Knastmauern hinweg ein Thema. Bis zum heutigen Tag. Seit beinahe drei Jahren. Nicht schlecht für eine kleine soziale Bewegung, die unterhalb des Nullpunktes beginnen musste.
Die im Mai 2014 gegründete GG/BO ist angetreten, Schritt für Schritt die volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern im solidarischen Verbund mit anderen (Basis-)Gewerkschaften durchzusetzen. Zu diesen Schritten gehört auch, die Einbeziehung der Inhaftierten in die komplette Sozialversicherungspflicht und in den Geltungsbereich des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zu erwirken.
Profitable Knastindustrie
Gefängnisse sind in den letzten Jahrzehnten auch in der Bundesrepublik zunehmend zu Produktionsstätten und Fabrikanlagen geworden. Von Tütenkleben und Kugelschreiber-Zusammendrehen kann keine Rede mehr sein. Knäste sind Sonderwirtschaftszonen, in denen sozial- und arbeitsrechtliche Standards nicht oder nur in Ansätzen existieren. Die Produktion in den Haftanstalten wird nach Verlautbarungen verschiedener JVA-Verwaltungen in den Bundesländern betriebswirtschaftlich organisiert.1 Die Fertigungsstätten auf den Arealen der Justizvollzugsanstalten sind insbesondere für Landesbehörden und externe Unternehmen profitabel. Hierbei erfüllen die Knastbetriebe in erster Linie die Funktion einer verlängerten Werkbank für das ortsnahe Gewerbe und die regionale Industrie, die die sozialabgabenfreien Billiglohninseln als bevorzugten Standort betrachten.2 Inhaftierte stehen auf Abruf bereit, um bei ausgelasteten Kapazitäten der Unternehmen einzuspringen. Der in zwölf von 16 Bundesländern geltende Arbeitszwang nach den Bestimmungen des 1977 in Kraft getretenen Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) führt dazu, dass die Inhaftierten zu einer jederzeit verfügbaren »industriellen Reservearmee« degradiert werden.
Der Trend zur Ökonomisierung des Knastes wird durch die Teilprivatisierung vor allem neu errichteter Gefängnisanlagen, wie in Rostock-Waldeck (Mecklenburg-Vorpommern), Burg (Sachsen-Anhalt) oder Bremervörde (Niedersachsen) verstärkt. Dies sind die Vorboten eines Systems, welches in den USA seit Jahrzehnten unter dem Stichwort des »gefängnisindustriellen Komplexes« bekannt ist. Dieses System ist vor allem für die privaten Betreiber lukrativ, denn der Staatshaushalt wird dadurch nicht entlastet, wie eine Studie des Rechercheteams »Correktiv« belegt. Tatsächlich steigen die Kosten.3
Bereits im Jahre 2007 verwies das Handelsblatt darauf, dass sich die Haftanstalten »zu umsatzstarken Wirtschaftsunternehmen« entwickelt hätten – »dank billiger Gefangenenarbeit« (Handelsblatt, 13.4.2007). Aus der Arbeitskraft der Inhaftierten wurden allein im Jahr 2013 in den Werkshallen der Knäste bundesweit etwa 150 Millionen Euro herausgeholt (Süddeutsche Zeitung, 28.1.2015). Die »Dunkelziffer« dürfte indes wesentlich höher liegen. Denn bei diesem Zahlenwerk handelt es sich lediglich um die offiziellen Angaben. Unberücksichtigt bleibt der eigentliche »Marktwert« der verrichteten Arbeiten für die Landesbehörden, da diese haushaltsintern zwischen einzelnen Ressorts verrechnet und nicht zu »marktüblichen Preisen« geordert werden. Außerdem unberücksichtigt bleiben die sogenannten reproduktiven Tätigkeiten der Inhaftierten (Anstaltsküche, Wäscherei, Hausarbeiten etc.), durch die der Betrieb des Gefängnisses gesichert wird. Es ist makaber, aber durch den Arbeitseinsatz der Häftlinge wird das perfide System des Wegschließens und Einsperrens von Menschen nicht nur aufrechterhalten, sondern subventioniert, da diese »Dienstleistungen« gleichfalls nicht auf dem »freien Markt« nachgefragt werden.
Ein zentraler Schwerpunkt in der Wertschöpfungskette der JVA sind die sogenannten Unternehmerbetriebe. In diesen wird für externe Firmen oftmals im Akkord zertifiziert produziert. Der Staat tritt hier mittels der JVA-Leitungen als Verleiher der Arbeitskraft Inhaftierter auf. Im Grunde handelt es sich um ein Szenario aus längst vergangenen Zeiten: Der Staat stellt ein kaserniertes und weitgehend rechtloses Arbeitskräftereservoir zur Verfügung, das Konzerne oder deren Subunternehmer knapp oberhalb der Gratismarke »einkaufen«. Gefangenenarbeit wird verramscht.
Sozial- und Lohndumping
Mit dem staatlich geförderten Sozial- und Lohndumping hinter den Gefängnismauern wird offensiv geworben, um den »Wirtschaftsstandort Knast« besonders attraktiv erscheinen zu lassen. Unsere inhaftierten Kolleginnen und Kollegen sind von Mindest- oder gar Tariflöhnen ebenso ausgenommen, wie von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, vom Kündigungsschutz oder der Rentenversicherungspflicht. Insbesondere die Nichteinzahlung in die Rentenkasse führt nach einer mehrjährigen Haftzeit geradewegs in die Altersarmut. Der sogenannte Resozialisierungsgedanke, der im StVollzG niedergelegt ist, wird so völlig pervertiert.
Die prekäre Arbeitssituation in den Betriebsanlagen der Haftanstalten und die systematische Entwertung der Arbeitsleistung Inhaftierter bilden demnach die Voraussetzungen, um auf dem Rücken der gefangenen Arbeiterinnen und Arbeiter für die Auftraggeber eine »Verringerung des Ressourceneinsatzes« zu ermöglichen und »Kosteneinsparpotentiale« zu nutzen. So die Formulierungen in offiziellen Verlautbarungen.4
Von den ca. 63.000 Inhaftierten der Bundesrepublik befinden sich ca. 42.000 in Beschäftigungsverhältnissen. Wiederholt wird die Behauptung aufgestellt, die zur Arbeit verpflichteten Gefangenen würden keiner »richtigen Arbeit« nachgehen. Ihnen fehle der »Arbeitnehmerstatus«, sie würden lediglich quasitherapeutische Hilfsarbeiten ausführen und an einer Art beruflicher Wiedereingliederungsmaßnahme im Rahmen des »Resozialisierungskonzepts« teilnehmen. Richtig ist, dass Gefangene aufgrund der Zuweisung von Beschäftigung kein »normales« Arbeitsverhältnis eingehen (können). Die Aberkennung des »Arbeiternehmerstatus« ist der administrative Trick, um Zehntausende inhaftierte Beschäftigte fortgesetzt zu entrechten und deren Arbeitsleistung zu entwerten. Aber auch inhaftierte Menschen haben, da sie keine Produktionsmittel besitzen, nichts anderes einzubringen, als ihre menschliche Arbeitskraft, die sie als Ware zum Verkauf anbieten. Das ist ein wesentliches Kennzeichen eines wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses. Die Arbeitsverhältnisse in den Knastbetrieben erinnern aufgrund des im StVollzG verankerten Arbeitszwangs eher an vorkapitalistische Gesellschaftsformen als an einen modernen Sozial- und Rechtsstaat des 21. Jahrhunderts.
Justizvertreter operieren mit dem »Argument«, dass die Knastarbeit ein pures »Zuschussgeschäft« sei. Auch das führt in die Irre. In den JVA-Betrieben wird von den gefangenen Arbeiterinnen und Arbeitern Mehrwert produziert. Es ist absurd, hinsichtlich des »Kostenfaktors Knast« eine Eins-zu-eins-Umrechnung anzustellen. Hoheitliche Aufgaben werden insgesamt anteilig von den Staatsbürgern über das Steueraufkommen finanziert. Zudem existiert kein Passus in einem Gesetzeswerk, wonach Gefangene für ihre Inhaftierung finanziell selbst aufzukommen hätten.
Eine Sozialversicherung für gefangene Beschäftigte wurde ausdrücklich in das StVollzG aufgenommen. Bis auf die Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung, auch wenn der Anrechnungszeitraum zuungunsten der arbeitenden Gefangenen bemessen wird (z. B. fallen arbeitsfreie Sonn- und Feiertag nicht in den Berechnungszeitraum), erfolgte diesbezüglich jedoch nichts. Die Einbeziehung von Gefangenen in die Sozialversicherung wurde unter den Vorbehalt eines zu verabschiedenden Bundesgesetzes gestellt. Aber seit fast 40 Jahren kommt keine parlamentarische Mehrheit im Deutschen Bundestag zustande, um diese sozialen Mindeststandards auch für Häftlinge per Gesetz zu beschließen.
Gefängnis als Ort des Kampfes
Der Knast ist fürwahr bislang kein Ort des sozialpolitischen Engagements gewesen. Der Verwahrvollzug ist sprichwörtlich zu verstehen. Fügung, nicht Regung war und ist die Devise. Mit der GG/BO haben sich Gefangene eine selbst organisierte Plattform geschaffen. Als »soziale Randgruppe« verfügen sie nun über eine eigene Lobby, über die sie sich in gesellschaftliche Debatten einbringen sowie Forderungen formulieren und durchsetzen können. Gefängnisse sind seitens der Gefangenen keine gewerkschaftsfreie Zone mehr!
Wir nehmen als gefangene Arbeiterinnen und Arbeiter unser Recht der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit nach Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes in Anspruch und unsere Interessen in die eigenen Hände. Wir nehmen das Sozialstaatsprinzip ernst und fordern in diesem Zusammenhang eine Gleichbehandlung von inhaftierten und nicht inhaftierten Menschen. Denn es ist völlig inakzeptabel, dass der Freiheitsentzug für die Gefangenen durch eine sozial- und arbeitsrechtlichen Diskriminierung zusätzlich verschärft wird. Eine solche Doppel- und Dreifachbestrafung ist schlicht und ergreifend rechtswidrig.
Unsere Aufgabe als GG/BO ist es, die ökonomische Klassensituation der gefangenen Kolleginnen und Kollegen über die Realisierung unserer Kernforderungen nach Sozialversicherung und Mindestlohn zu verbessern. Es muss ein Ende haben, dass der Einsatz der Arbeitskraft inhaftierter Menschen faktisch zum Nulltarif erfolgen kann. Die Zielsetzung ist, dass man mit einem Einkommen auch ein Auskommen hat – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gefängnisses.
Der Kampf um die Arbeitsbedingungen im Allgemeinen und die Lohnhöhe sowie die Ausgestaltung der Arbeitszeit im Besonderen waren stets Konfliktpunkte zwischen jenen, die die Arbeitskraft abschöpfen und jenen, die sie anbieten. Das ist im Knast nicht anders, zumal die prekäre Arbeits- und Lebenssituation nicht nur Gesprächsstoff liefert, sondern auch eine Menge an Zündstoff bereit hält. Einer unserer zentralen Ansätze ist es, keine Konkurrenz zwischen einzelnen Beschäftigtengruppen aufkommen zu lassen, sondern als Einheit unabhängig von ethnischer Herkunft oder beruflichem Hintergrund aufzutreten. Wir erheben als GG/BO aber nicht nur für arbeitende Gefangene und gefangene Auszubildende unsere Stimme, damit bei letzteren z. B. eine Angleichung der Ausbildungsvergütung erfolgt wie bei nicht inhaftierten Menschen in einem Ausbildungsverhältnis. Wir fordern gleichfalls eine deutliche Erhöhung des sogenannten Sozialgeldes für die Gefangenen, die sich aufgrund einer chronischen Erkrankung oder Arbeitsunfähigkeit in keinem Beschäftigungsverhältnis befinden. Des weiteren unterstützen wir jene Inhaftierten, die sich bewusst gegen den staatlichen Arbeitszwang hinter Gittern positionieren und diese Form der unfreiwilligen Tätigkeit teilweise oder ausnahmslos verweigern.
Die Liste der Aktivitäten in der kurzen Geschichte der GG/BO ist bereits jetzt lang. Die folgende Aufzählung ist unvollständig, vermittelt aber einen Eindruck von dem, was die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation praktisch ausmacht.
Die GG/BO ist wahrlich kein »Männerverein«. In der größten Haftanstalt für Frauen in Nordrhein-Westfalen, in Willich bei Köln, bildete sich die erste Frauensektion. In einem längeren Artikel in der tageszeitung (29.11.2015) berichteten die beiden Sprecherinnen Anja und Stephanie Meyer über ihre Tätigkeit hinter Gittern. Zwischenzeitlich waren mehr als 40 Frauen, etwa ein Fünftel der Insassinnen, in der Gewerkschaft organisiert. Aktuell finden sich inhaftierte Frauen in der JVA Chemnitz im Rahmen der GG/BO zusammen.
Von der Kita bis zum Ministerium
Mit einer »Aktivierenden Untersuchung« war es uns 2015 gelungen, genaueres über die verschiedenen Knastbetriebe zu erfahren. Mit einem Fragenkatalog baten wir Inhaftierte um Auskunft, welche externen Unternehmen und Landesbehörden in welchen JVA-Betrieben welche Produkte unter welchen Konditionen herstellen lassen. Die Ergebnisse haben wir beispielhaft für das Bundesland Niedersachsen zusammengetragen. Ein wesentlicher Lieferant von Informationen war unser GG/BO-Sprecher in der JVA Sehnde, Kai Rollenhagen. Erstes Ergebnis: Faktisch alle Landesbehörden von der Kindertagesstätte bis zu Ministerien lassen in den JVA-Betrieben produzieren. Zweites Ergebnis: Namhafte Unternehmen aus der Automobilbranche und der Elektroindustrie nutzen die Arbeitskraft Inhaftierter sozialabgabenfrei. Zum Beispiel lässt einer der weltweit größten Windkraftanlagenbauer, Enercon, über Subunternehmen in westniedersächsischen Haftanstalten elektronische Bauteile fertigen.
In der mittelhessischen JVA Butzbach sorgte Ende 2015 ein Hunger- und Bummelstreik für regionales Aufsehen. Jürgen Rössner organisierte unermüdlich die Streikfront hinter Gittern. Ein Dokument aus der JVA-Schlosserei lieferte den Zündstoff. Der darin enthaltenen offiziellen Statistik war zu entnehmen, dass der Lohnanteil der arbeitenden Gefangenen am jährlichen Reingewinn von drei Millionen Euro bei unter 0,4 Prozent lag. In Berlin und Frankfurt a. M. bildete sich ein »Netzwerk für die Rechte inhaftierter Arbeiterinnen und Arbeiter«, das Kontakte vor allem auch in den akademischen Bereich herstellen konnte. Auch wenn unter dem Strich die Forderungen nicht durchgesetzt werden konnten, so zeigte dieser öffentlich ausgetragene Konflikt doch, dass eine gewerkschaftspolitische Mobilisierung vor und hinter den Gefängnismauern möglich ist.
Ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Tätigkeit der GG/BO ist die Aufdeckung der mutmaßlichen »Klau- und Schmuggelwirtschaft« seitens Bediensteter in der JVA Tegel in Berlin, die Mitte September 2016 ein bundesweites Medienecho fand. Ein Netzwerk von 20 bis 30 Beamten und Angestellten der JVA ließ nach Angaben der beiden Whistleblower Timo F. und Benjamin L. Dienstleistungen und Waren von unter Billiglohnbedingungen arbeitenden Gefangenen für den Eigenbedarf oder Weiterverkauf aus den JVA-Betrieben herausschaffen. Besonders beliebt: Mobiliar aus der JVA-eigenen Tischlerei und Schreinerei sowie Materialien aus der Knastschlosserei wie etwa Edelstahlgrills.5 Diese »Tegel-Connection« kam mit Unterstützung der GG/BO an die Öffentlichkeit. Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt mittlerweile gegen zwei Beamte.
Aber auch lokale Auseinandersetzungen um die Durchsetzung einer schikanefreien Gewerkschaftstätigkeit von unseren inhaftierten Mitgliedern waren immer wieder Thema. So in der JVA Untermaßfeld südwestlich von Erfurt im von Bodo Ramelow (Die Linke) regierten Thüringen. Postzensur und Zellenrazzien gegen engagierte Gewerkschafter hinter Gittern wie den örtlichen GG/BO-Sprecher David Hahn waren und sind im »Musterland« von »Rot-Rot-Grün« leider keine Ausnahme. Aber auch gegen die Verweigerung von nährstoffhaltigen Nahrungsmitteln oder erforderliche Sonderkost richtet sich der Widerspruch der GG/BO in den Thüringer Knästen.
Bereits vor etwas mehr als einem Jahr begab sich die Organisation auf einen »Expansionskurs«: »GG/BO goes Austria« lautete das Motto. Nach dem ersten Anstoß wurde es für einige Monate recht ruhig um den österreichischen Ableger der GG/BO, bis sich ein Kreis von Gefangenen in der Justizanstalt Graz-Karlau in der Steiermark gefunden hatte, der die Initiative ergriff. Georg Huß, Oliver Riepan und andere organisierten die erste Kampagne für Gewerkschaftsrechte in den Justizanstalten Österreichs. In Wien hat sich zwischenzeitlich ein personell erweiterter Solikreis für die österreichische GG/BO gebildet, der über seinen Blog die gewerkschaftspolitischen und menschenrechtlichen Aktivitäten dokumentiert.6
Die Geschichte von sozialen Bewegungen, die um Solidarität, Autonomie, Emanzipation und (tiefgreifende) Sozialreformen gerungen haben, ist gleichzeitig eine von staatlicher Verfolgung und behördlicher Kriminalisierung. Die Gewerkschaftsbewegungen waren hiervon »an vorderster Front« betroffen. Eine von ihnen geforderte Gesellschaftsveränderung löste bei den Machthabern nicht nur Argwohn aus, sondern zog eine verdeckte oder offene Bekämpfung von (Basis-)Gewerkschaftern nach sich.
Die GG/BO befindet sich in einer organisatorischen Schieflage. Drinnen Hunderte Mitglieder, und noch weit mehr Sympathisanten. Draußen ein, zwei, drei Handvoll Aktvistinnen und Aktivisten, die die Arbeit koordinieren. Die GG/BO hat sich in Teilen bereits regionalisiert, zum Teil lokalisiert. Dieser Prozess muss fortgesetzt werden. Denn es hat sich gezeigt, umso näher Soligruppen an den Haftanstalten sind, umso intensiver und kontinuierlicher fallen die Kampagnen hinter Gittern aus.
Es ist unerheblich, ob prekäre Arbeitsverhältnisse vor oder hinter den Knasttoren existieren – sie gehören generell abgeschafft. Gewerkschaftliche Solidarität ist an diesem wie an anderen Punkten unteilbar!
Rechtliche Anerkennung
Deshalb setzen wir auf einen intensiven Austausch von inhaftierten und nicht inhaftierten Kolleginnen und Kollegen aus den Einzelgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sowie den Basisgewerkschaften der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) und den Industrial Workers of the World (IWW). Wir wissen, dass unser Erfolg wesentlich davon abhängt, ob die legitimen Kernforderungen der GG/BO Eingang in das breite Gewerkschaftsspektrum finden werden. Nur so lässt sich der erforderliche soziale Druck aufbauen, um letztlich mehrheitsfähig werden zu können.
Wenn wir über die Sozialversicherungspflicht und den Mindestlohn eine tendenzielle Angleichung der Arbeitsverhältnisse drinnen und draußen erzielen wollen, so ist das nur ein Schritt auf dem Weg zur vollen Gewerkschaftsfreiheit hinter Schloß und Riegel. Wir orientieren darauf, sowohl die Versammlungsfreiheit für GG/BO-Mitglieder im Knast als auch die Tariffähigkeit der GG/BO durchzusetzen. Damit ist unsere Forderung verbunden, dass auch für Gefangene das Betriebsverfassungsgesetz gilt, da sich die GG/BO nicht in den Rahmen der sogenannten Gefangenenmitverantwortung nach Paragraph 160 StVollzG pressen lässt. Damit dokumentieren wir nicht nur einen emanzipatorischen Akt, in der Unfreiheit des Knasts Freiheit zu reklamieren. Wir erlangen hierüber einen Gestaltungsraum und eine Beweglichkeit, die im Falle potentieller Arbeitskampfmaßnahmen von gefangenen Arbeiterinnen und Arbeiter nur von Vorteil sein werden. Die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit steht uns zu, ohne jede substantielle Einschränkung!
Zwei Momente kennzeichnen eine gewerkschaftspolitische und -rechtliche Aktivität von Gefangenen im Knastalltag, die Verbindungslinien zur weiten Arbeitswelt vor den Toren der Haftanstalten schaffen können: Zum einen finden Methoden des »Union Busting« gegenüber der GG/BO und ihren Aktivistinnen und Aktivisten eine breite Anwendung. Damit ist nicht nur eine massive Behinderung der Gewerkschaftsarbeit gemeint, sondern der Versuch der JVA-Leitungen, eine weitere Ausdehnung der GG/BO mit Hilfe einer Vielzahl von Schikanen zu verhindern. Im Extremfall kann das bis zum gezielten Zerschlagungsversuch der gewerkschaftlichen Selbsthilfe reichen. Zum anderen haben wir es bei der Billigarbeit in den Knästen mit einem besonders eklatanten Fall im Niedriglohnsektor zu tun. In beiden Fällen ergeben sich jeweils Handlungsspielräume und Schnittstellen einer gegenseitigen Solidarisierung von beschäftigten und nicht beschäftigten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern vor und hinter den Knastmauern. Und genau dieses Band der Solidarität wollen wir Knoten für Knoten enger knüpfen.
Anmerkungen:
1 www.jva-shop-business.de/frontpage-style1/die-arbeitsbetriebe-der-niedersaechsischen-justiz-partner-der-wirtschaft.html
2 Siehe beispielsweise: www.vaw.de/unternehmen/niederlassungen/ravensburg.html
3 Jonas Mueller-Töwe: Geheime Verträge, versteckte Kosten. Warum private Dienstleister Deutschlands Gefängnisse nicht billiger, sondern teurer machen, https://kurzlink.de/E66DvEJQw
4 www.jva-shop-business.de/frontpage-style1/die-arbeitsbetriebe-der-niedersaechsischen-justiz-partner-der-wirtschaft.html
5 www.stern.de/wirtschaft/news/jva-tegel–die-unfassbaren-schmuggeleien-im-maennerknast-7109860.html
6 http://ggraus.blogsport.at
https://www.jungewelt.de/2017/02-27/057.php