Der Ausnahmezustand, d.h. das Regierungsdekret zur Ausgangssperre, wurde am 9. März erlassen. Der Erlass kam plötzlich, bis dahin waren nur einzelne Provinzen streng abgeriegelt (insbesondere die Region Lombardei), jetzt wurde die gesamte Halbinsel zu Hause eingesperrt. Inhaftierung begleitet von drastischen repressiven Massnahmen. Nicht wesentliche Aktivitäten wurden untersagt: Geschäfte, Bars, Hotel, öffentliche Räumlichkeiten, Kirchen und Vereine wurden geschlossen. Als essenzielle Sektoren werden das Gesundheitssystem, die Landwirtschaft und die Lebensmittelverteilung, also auch der Verkehr, Bankdienstleistungen, die öffentliche Verwaltung und die Medien angesehen. Alles in Formen und Rhythmen, die in ständiger Neudefinition nach unten korrigiert wurden, in einem instabilen Gleichgewicht zwischen gesundheitlichen Notwendigkeiten und lebenswichtigen sozialen Anforderungen.
Angesichts des grossen Widerspruchs der Funktionserhaltung wurden die Massnahmen in Frage gestellt. Die Arbeitgeber beriefen sich mit grossem Geschrei auf die Rolle der Industrieproduktion als Hauptsäule der gesamten Gesellschaft! Was sehr interessant war, da es plötzlich die kapitalistischen Gesetze enthüllte, die immer versteckt wurden, und insbesondere, dass die Arbeiterklasse nicht verschwunden ist, im Gegenteil, sie bleibt das wesentliche Objekt der kapitalistischen Ausbeutung. Dies rief auch eine Klassenreaktion hervor, wie wir sie seit langem nicht mehr gesehen haben. Innerhalb von vier Tagen vermehrten sich die Streiks in einer grossen Anzahl von Fabriken vom Norden bis in den Süden des Landes. Alle wichtigen Orte waren betroffen. Das Schlagwort, das sich spontan verbreitete, lautete: „Wir sind kein Schlachtvieh!“. Die einheitliche Forderung: die Einstellung der gesamten Produktion, die nicht unbedingt erforderlich ist, und die Sicherung der Arbeitsbedingungen für wichtige Standorte. Garantiertes Gehalt für alle!
Der Aufstand war derart, dass sich die Regierung bereits am 14. März gezwungen sah, ein Dekret zu erlassen, das ein schwieriges Gleichgewicht mit den sehr anspruchsvollen Arbeitgebern anstrebte. Es zeigte sich, dass dieser erste Kompromiss zu sehr unter dem Diktat der Bosse stand. Die Streiks gingen weiter und am 25. März wurde von den beiden stärksten Basisgewerkschaften, der USB (Unione sindicale di base) und der CUB (Confederazione unitare di base), ein Generalstreik ausgerufen. Es war ein grosser Erfolg, auch wenn es diesen Gewerkschaften nur gelang, verstreute und unsystematische Situationen zu berühren, also nicht in einem Ausmass, wie es die drei historischen Gewerkschaften konnten. Aber das Zeichen war stark, zumal es überall zu vielen spontanen Streiks führte. So wurden die Verhandlungen zwischen Regierung, Arbeitgebern und den drei Grossgewerkschaften fortgesetzt, mit dem Ziel, die in Betrieb befindlichen Fabriken zu reduzieren. Das Resultat lag jedoch weit unter den Forderungen zurück. Um nur ein Skandal zu nennen: Eine Reihe von Waffenfabriken produzieren weiter, darunter die der F-35-Kampfflugzeuge!
Und das alles, während man erfuhr, dass es nur eine Fabrik für die Herstellung von Atemgeräten gibt, die heute von grundlegender Bedeutung sind, um schwerkranke CoronapatientInnen zu pflegen. Und dass viele von ihnen gerade wegen des Mangels an diesen Geräten sterben. Diese krassen Widersprüche werden in die Debatte aufgenommen und lassen einen gewissen Volkszorn wachsen, von dem man mangels konkreter Möglichkeiten, ihn auch zu zeigen, kein genaues Mass hat. Aber wir können fühlen, dass die Wut brodelt.
Der andere grosse Widerspruch ist offensichtlich der beklagenswerte Zustand, in dem sich das öffentliche Gesundheitswesen nach Jahrzehnten neoliberaler Politik, Privatisierungen und systematischem Abbau von Strukturen und Personal befindet. Die Menschen bedanken sich für die Opfer dieser MitarbeiterInnen an vorderster Front und lassen sich nicht von der Heuchelei der Regierung und der parlamentarischen Parteien täuschen, die an diesem Geist der Solidarität teilnehmen wollen (indem sie ihn auf nationale Schienen umleiten, einer angeblichen neuen Gemeinschaft), während sie für diesen schlechten Zustand verantwortlich sind. Der Kampf um diese Frage und allgemein um die Strukturen des öffentlichen Dienstes, des Sozialstaates, wird wahrscheinlich zu einer Hauptachse der kommenden Mobilisierungen. An diesem Punkt ist klar, dass das Konzept der Gesundheit als universelles Recht, das sich ausserhalb des Markts befindet, dem Gesundheitssystem, das in der Gesundheit eine Ware sieht (und dem Krankenhaus als Unternehmen), radikal entgegengesetzt ist. Gebt einem Kampf, der lange dauern wird, sozialistische Substanz.
Eine andere Frage, die sich stellt, ist die nach Einkommen und garantierten Löhnen. Die technische Arbeitslosigkeit eines grossen Teils der Arbeitswelt – einschliesslich der ohnehin prekären Schicht mit miserablen und jederzeit kündbaren Verträgen sowie der (in Italien sehr grossen) Schicht der Schwarzarbeit – hat riesige Massen in Angst versetzt. Sie werden am Ende des Monats ganz einfach ohne Geld dastehen. Die Regierung nahm dort eine entschieden keynesianische Wendung. Plötzlich werden zwei- später dreistellige Milliardenbeträge zur Verfügung gestellt, dank der „Erlösung“ durch die EU und die EZB. Die Grösse der Katastrophe zwingt sie dazu, aber es wird einen dramatischen wirtschaftlichen Niedergang und eine historische soziale Katastrophe nicht verhindern. Darauf bereiten sich viele Menschen und militante Gruppen vor. Die Frage des garantierten Einkommens wird von grundlegender Bedeutung, über den aktuellen Notstand hinaus. Und auch dort wird es notwendigerweise zu einer Konfrontation mit dem System hinauslaufen. Es beginnt zum Beispiel mit den ersten Zahlungsverweigerungen für Miete und andere Rechnungen rund ums Wohnen. Die Basisgewerkschaften haben beschlossen, diese Form des Widerstands zu unterstützen und zu organisieren. Was darüber hinaus in Italien während des revolutionären Zyklus der 1970er Jahre eine glorreiche Vorgeschichte hat. Dass nun plötzlich Berge von Geld bereitstehen und dass die ehernen Gesetze der Wirtschaft nun doch aufgehoben werden können, enthüllt den politischen Charakter der Klassenherrschaft, der Verurteilung zum Elend. Diese Enthüllung wird die Meinung der Massen prägen. Es ist das Kräfteverhältnis, das die Gesellschaft regiert: Lasst uns da mitspielen!
Und noch eine Frage taucht kraftvoll auf: die Verwüstungen, die der Umwelt zugefügt wurden, die Grenzen eines organischen Zusammenlebens zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft. Das Coronavirus entwickelt sich offensichtlich auf dem ungesunden Gelände der industriellen Tierhaltung (die bereits den “Rinderwahnsinn”, die Vogelgrippe, Sars usw. hervorgebracht haben), für die auch illegal Wälder gerodet werden (wie im Amazonas), was wiederum zu weiterer ökologischer Instabilität und der Migration von Viren und anderen Tieren führt. Schliesslich kommt dies alles in den Grossstädten zusammen, die von chronischer Verschmutzung geprägt sind. Das sind laut mehreren wissenschaftlichen Analysen die Gründe, wieso eine reiche und überbevölkerte Region wie die Lombardei im Zentrum dieser Krise steht. Beachten wir, dass die am stärksten betroffenen Gebiete zwei Städte sind, die historisch und aktuell stark von Industrie geprägt sind (Brescia und Bergamo). So ist ein grosser Teil der Alten, die sterben, ehemalige ArbeiterInnen mit zerstörten Lungen. Es zirkuliert dann in der allgemeinen Wahrnehmung, dass dieses Virus eine Art Aufstand der Natur sei, gegen alles, was ihr angetan werde. Dieses Bewusstsein kann die bereits laufenden (momentan unterbrochenen) Mobilisierungen beeinflussen und stärken, Bewegungen wie die “Fridays for Future”, und ihren Klassencharakter und den Antikapitalismus betonen.
In dem Zustand, in dem wir uns befinden, ist eine Aktivität, die sich durchgesetzt hat, das Schreiben von Texten und Online-Debatten. Man trifft da auf viele dieser Reflexionen und Überlegungen. Dies ist wertvoll, um sich auf die Wiederaktivierung vorzubereiten, ihr ideologischen Gehalt und Möglichkeiten für die Mobilisierung zu geben. Und einige organisatorische Änderungen sind im Gange, mit den Versammlungen via Radio, mit der Bildung einer Koordinierung der lokalen Kämpfe (zum Beispiel in Turin und Rom), mit gewerkschaftlichen und politischen Aktivitäten in Fabriken, Krankenhäusern und Transportmitteln. Vor allem bemerken wir schliesslich einen starken Impuls zur Einheit, in Richtung Einheitsfront. Da wir den ganzen Ernst der Situation wahrnehmen, müssen wir die Kraft finden, uns ihr zu stellen. Und wir können es nur alle zusammen schaffen, zumindest der proletarische Teil.
Die Sorge ist gross, viele Menschen wissen, dass ihr Leben auf den Kopf gestellt ist, dass sie ihren Job nicht mehr haben werden und nicht einmal ihr Geschäft noch existieren wird. Und uns gegenüber steht das Sicherheitsaufgebot der militarisierten Gesellschaft. Insbesondere haben wir gesehen, welche repressive Gewalt gegen die Gefangenen im Aufstand angewandt wurde. Es sieht aus wie die Gewalt eines verwundeten Tieres, das keinen Ausweg sieht; die Gewalt eines Systems, das sich in Bedrängnis weiss. Wie oft haben wir, die RevolutionärInnen der Klassenbewegung, das chaotische und barbarische Ende des Kapitalismus gepredigt. Wir sind wahrscheinlich da. Wir müssen nun hartnäckig arbeiten und kämpfen, um uns die Mittel zu geben, um der Aufgabe gerecht werden zu können.
Ein Genosse der Proletari Torinesi Per Il Soccorso Rosso Internazionale
Rom, 3. April 2020