Tag Archives: Deutschland

Deutschland: »Straftaten werden nicht zur Last gelegt«

Staatsschutzverfahren wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der PKK vor deutschen Gerichten laufen weiter. Gespräch mit Britta Eder

Interview: Martin Dolzer

Derzeit findet in Hamburg ein Verfahren nach Paragraph 129 b Strafgesetzbuch, also mit dem Vorwurf der Bildung oder Unterstützung einer »kriminellen und terroristischen Vereinigungen im Ausland«, gegen den kurdischen Politiker Zeki Eroglu statt. Am heutigen Donnerstag ist der vierte Prozesstag. Worum geht es?

Unserem Mandanten wird vorgeworfen, dass er führender Kader der PKK sei. Konkrete Straftaten werden ihm nicht zur Last gelegt. Das Justizministerium hat im Oktober 2010 eine »Verfolgungsermächtigung« gegen die PKK gemäß Paragraph 129 gegeben. Durch eine solche Ermächtigung wird die Gewaltenteilung aufgehoben und Außenpolitik mittels Strafrecht gemacht.

Ob Handlungen der PKK-Guerilla, also der HPG-Volksverteidigungskräfte, gegen Angehörige türkischer Sicherheitsorgane gerechtfertigt sind, wurde in bisherigen Verfahren auf der völkerrechtlichen Ebene erörtert.

Mit Beschluss des Bundesgerichtshofs im Mai 2014 hat dieser entschieden, dass für durch die HPG verübten Angriffe auf militärische, paramilitärische oder polizeiliche Einrichtungen kein Rechtfertigungsgrund bestehe und ihr Ziel deshalb »Mord und Totschlag« sei. Dabei kommt es auf die Frage an, wer sich auf das Kombattantenprivileg, also das Recht, unmittelbar an Feindseligkeiten teilzunehmen und dabei auch militärische Gegner zu töten, berufen darf. Nach den Genfer Konventionen können dies grundsätzlich die Angehörigen der Streitkräfte einer an einem internationalen bewaffneten Konflikt beteiligten Partei, also in der Regel die Angehörigen staatlicher Armeen.

Hierzu haben Gerichte in den bisherigen Verfahren zum Paragraphen 129 lediglich festgestellt, dass es sich beim türkisch-kurdischen Konflikt um keinen internationalen bewaffneten Konflikt handele.

Als Ergebnis des Herausbildens von Befreiungsbewegungen und antikolonialer Bewegungen, insbesondere auch in Afrika, wurde jedoch 1977 mit dem I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen festgelegt, dass das Kombattantenprivileg auch nichtstaatlichen bewaffneten Kräften zukommen soll, wenn Völker gegen Kolonialherrschaft und fremde Besetzung sowie gegen rassistische Regimes in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung kämpfen. In der Begründung, dass die PKK sich nicht darauf berufen kann, verweist der BGH darauf, das Zusatzprotokoll gelte nicht, weil die Türkei es nicht unterzeichnet habe. Im übrigen handele es sich bei der Türkei weder um ein Apartheid- noch um ein rassistisches Regime, da Kurden zwar diskriminiert, aber nicht grundsätzlich vom politischen Prozess ausgeschlossen seien. Außerdem sei Kurdistan keine Kolonie, sondern ein Ergebnis der Vereinbarung der Siegermächte des Ersten Weltkrieges, insbesondere des Vertrages von Lausanne.

Ist das nicht zynisch und eine Fehleinschätzung der Situa­tion in der Türkei?

Das ist offensichtlich. Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen sind dort seit Jahrzehnten an der Tagesordnung und nehmen in letzter Zeit erneut zu.

Sie fordern vom Gericht nun eine Auseinandersetzung mit dem Recht auf Widerstand.

Das Recht auf Widerstand ist, auch als Erfahrung aus dem »Dritten Reich«, sowohl in Artikel 20 Absatz 4 des Grundgesetzes als auch in zahlreichen Landesverfassungen definiert. Es ist vom Gesetzgeber gewollt. Das zeigt sich auch daran, dass der Paragraph 129 b des Strafgesetzbuches bereits bei der politischen Entscheidung, die dem gerichtlichen Verfahren vorgeschaltet ist, dem Justizministerium ermöglicht, die Ermächtigung zur Strafverfolgung nicht zu erteilen. Nämlich dann, wenn die Organisation sich im Ausland gegen Verhältnisse zur Wehr setzt, die im Widerspruch zum inländischen Leitbild einer freiheitlich-demokratisch verfassten Staatsordnung stehen. Diesem Selbstverständnis folgend und in Anbetracht der Geschichte und der aktuellen Situation der Türkei muss das Gericht auch auf juristischer Ebene das Recht auf Widerstand als Rechtfertigungsgrund berücksichtigen und das Verfahren einstellen.

Ihr Mandant hat am zweiten Prozesstag zu dieser aktuellen Situation eine Erklärung abgegeben.

Er verdeutlichte die Geschichte der Assimilations- und Vernichtungspolitik des türkischen Staates gegenüber den Kurden anhand der Geschichte seiner Heimatstadt Dersim. Und er erklärte seinen Stolz, Teil eines Volkes zu sein, das sich seit Jahrzehnten gegen diese Unterdrückung zur Wehr und für einen demokratischen Prozess einsetzt.

https://www.jungewelt.de/m/artikel/306355.straftaten-werden-nicht-zur-last-gelegt.html

Soziale Frage hinter Gittern

Die 2014 gegründete Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation kämpft für Mindestlohn, Sozialversicherung und Koalitionsfreiheit für Inhaftierte

Von Oliver Rast

Die Gründung erfolgte per Handschlag zwischen zwei Inhaftierten der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel im Berliner Stadtteil Reinickendorf: von Mehmet-Sadik Aykol und mir. Kurz nach dem Bekanntwerden der Gründung der »Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation« (GG /BO) gab es Zellenrazzien in der Tegeler Anstalt. Der Beißreflex der Vollzugsbehörde war einkalkuliert – und von da ab waren wir in der Haftanstalt und über die Knastmauern hinweg ein Thema. Bis zum heutigen Tag. Seit beinahe drei Jahren. Nicht schlecht für eine kleine soziale Bewegung, die unterhalb des Nullpunktes beginnen musste.

Die im Mai 2014 gegründete GG/BO ist angetreten, Schritt für Schritt die volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern im solidarischen Verbund mit anderen (Basis-)Gewerkschaften durchzusetzen. Zu diesen Schritten gehört auch, die Einbeziehung der Inhaftierten in die komplette Sozialversicherungspflicht und in den Geltungsbereich des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zu erwirken.

Profitable Knastindustrie

Gefängnisse sind in den letzten Jahrzehnten auch in der Bundesrepublik zunehmend zu Produktionsstätten und Fabrikanlagen geworden. Von Tütenkleben und Kugelschreiber-Zusammendrehen kann keine Rede mehr sein. Knäste sind Sonderwirtschaftszonen, in denen sozial- und arbeitsrechtliche Standards nicht oder nur in Ansätzen existieren. Die Produktion in den Haftanstalten wird nach Verlautbarungen verschiedener JVA-Verwaltungen in den Bundesländern betriebswirtschaftlich organisiert.1 Die Fertigungsstätten auf den Arealen der Jus­tizvollzugsanstalten sind insbesondere für Landesbehörden und externe Unternehmen profitabel. Hierbei erfüllen die Knastbetriebe in erster Linie die Funktion einer verlängerten Werkbank für das ortsnahe Gewerbe und die regionale Industrie, die die sozialabgabenfreien Billiglohn­inseln als bevorzugten Standort betrachten.2 Inhaftierte stehen auf Abruf bereit, um bei ausgelasteten Kapazitäten der Unternehmen einzuspringen. Der in zwölf von 16 Bundesländern geltende Arbeitszwang nach den Bestimmungen des 1977 in Kraft getretenen Strafvollzugsgesetzes (StVollzG) führt dazu, dass die Inhaftierten zu einer jederzeit verfügbaren »industriellen Reservearmee« degradiert werden.

Der Trend zur Ökonomisierung des Knastes wird durch die Teilprivatisierung vor allem neu errichteter Gefängnisanlagen, wie in Rostock-Waldeck (Mecklenburg-Vorpommern), Burg (Sachsen-Anhalt) oder Bremervörde (Nieder­sachsen) verstärkt. Dies sind die Vorboten eines Systems, welches in den USA seit Jahrzehnten unter dem Stichwort des »gefängnisindustriellen Komplexes« bekannt ist. Dieses System ist vor allem für die privaten Betreiber lukrativ, denn der Staatshaushalt wird dadurch nicht entlastet, wie eine Studie des Rechercheteams »Correktiv« belegt. Tatsächlich steigen die Kosten.3

Bereits im Jahre 2007 verwies das Handelsblatt darauf, dass sich die Haftanstalten »zu umsatzstarken Wirtschaftsunternehmen« entwickelt hätten – »dank billiger Gefangenenarbeit« (Handelsblatt, 13.4.2007). Aus der Arbeitskraft der Inhaftierten wurden allein im Jahr 2013 in den Werkshallen der Knäste bundesweit etwa 150 Millionen Euro herausgeholt (Süddeutsche Zeitung, 28.1.2015). Die »Dunkelziffer« dürfte indes wesentlich höher liegen. Denn bei diesem Zahlenwerk handelt es sich lediglich um die offiziellen Angaben. Unberücksichtigt bleibt der eigentliche »Marktwert« der verrichteten Arbeiten für die Landesbehörden, da diese haushaltsintern zwischen einzelnen Ressorts verrechnet und nicht zu »marktüblichen Preisen« geordert werden. Außerdem unberücksichtigt bleiben die sogenannten reproduktiven Tätigkeiten der Inhaftierten (Anstaltsküche, Wäscherei, Hausarbeiten etc.), durch die der Betrieb des Gefängnisses gesichert wird. Es ist makaber, aber durch den Arbeitseinsatz der Häftlinge wird das perfide System des Wegschließens und Einsperrens von Menschen nicht nur aufrechterhalten, sondern subventioniert, da diese »Dienstleistungen« gleichfalls nicht auf dem »freien Markt« nachgefragt werden.

Ein zentraler Schwerpunkt in der Wertschöpfungskette der JVA sind die sogenannten Unternehmerbetriebe. In diesen wird für externe Firmen oftmals im Akkord zertifiziert produziert. Der Staat tritt hier mittels der JVA-Leitungen als Verleiher der Arbeitskraft Inhaftierter auf. Im Grunde handelt es sich um ein Szenario aus längst vergangenen Zeiten: Der Staat stellt ein kaserniertes und weitgehend rechtloses Arbeitskräftereservoir zur Verfügung, das Konzerne oder deren Subunternehmer knapp oberhalb der Gratismarke »einkaufen«. Gefangenenarbeit wird verramscht.

Sozial- und Lohndumping

Mit dem staatlich geförderten Sozial- und Lohndumping hinter den Gefängnismauern wird offensiv geworben, um den »Wirtschaftsstandort Knast« besonders attraktiv erscheinen zu lassen. Unsere inhaftierten Kolleginnen und Kollegen sind von Mindest- oder gar Tariflöhnen ebenso ausgenommen, wie von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, vom Kündigungsschutz oder der Rentenversicherungspflicht. Insbesondere die Nichteinzahlung in die Rentenkasse führt nach einer mehrjährigen Haftzeit geradewegs in die Altersarmut. Der sogenannte Resozialisierungsgedanke, der im StVollzG niedergelegt ist, wird so völlig pervertiert.

Die prekäre Arbeitssituation in den Betriebsanlagen der Haftanstalten und die systematische Entwertung der Arbeitsleistung Inhaftierter bilden demnach die Voraussetzungen, um auf dem Rücken der gefangenen Arbeiterinnen und Arbeiter für die Auftraggeber eine »Verringerung des Ressourceneinsatzes« zu ermöglichen und »Kosteneinsparpotentiale« zu nutzen. So die Formulierungen in offiziellen Verlautbarungen.4

Von den ca. 63.000 Inhaftierten der Bundesrepublik befinden sich ca. 42.000 in Beschäftigungsverhältnissen. Wiederholt wird die Behauptung aufgestellt, die zur Arbeit verpflichteten Gefangenen würden keiner »richtigen Arbeit« nachgehen. Ihnen fehle der »Arbeitnehmerstatus«, sie würden lediglich quasitherapeutische Hilfsarbeiten ausführen und an einer Art beruflicher Wiedereingliederungsmaßnahme im Rahmen des »Resozialisierungskonzepts« teilnehmen. Richtig ist, dass Gefangene aufgrund der Zuweisung von Beschäftigung kein »normales« Arbeitsverhältnis eingehen (können). Die Aberkennung des »Arbeiternehmerstatus« ist der administrative Trick, um Zehntausende inhaftierte Beschäftigte fortgesetzt zu entrechten und deren Arbeitsleistung zu entwerten. Aber auch inhaftierte Menschen haben, da sie keine Produktionsmittel besitzen, nichts anderes einzubringen, als ihre menschliche Arbeitskraft, die sie als Ware zum Verkauf anbieten. Das ist ein wesentliches Kennzeichen eines wirtschaftlichen Abhängigkeitsverhältnisses. Die Arbeitsverhältnisse in den Knastbetrieben erinnern aufgrund des im StVollzG verankerten Arbeitszwangs eher an vorkapitalistische Gesellschaftsformen als an einen modernen Sozial- und Rechtsstaat des 21. Jahrhunderts.

Justizvertreter operieren mit dem »Argument«, dass die Knastarbeit ein pures »Zuschussgeschäft« sei. Auch das führt in die Irre. In den JVA-Betrieben wird von den gefangenen Arbeiterinnen und Arbeitern Mehrwert produziert. Es ist absurd, hinsichtlich des »Kostenfaktors Knast« eine Eins-zu-eins-Umrechnung anzustellen. Hoheitliche Aufgaben werden insgesamt anteilig von den Staatsbürgern über das Steueraufkommen finanziert. Zudem existiert kein Passus in einem Gesetzeswerk, wonach Gefangene für ihre Inhaftierung finanziell selbst aufzukommen hätten.

Eine Sozialversicherung für gefangene Beschäftigte wurde ausdrücklich in das StVollzG aufgenommen. Bis auf die Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung, auch wenn der Anrechnungszeitraum zuungunsten der arbeitenden Gefangenen bemessen wird (z. B. fallen arbeitsfreie Sonn- und Feiertag nicht in den Berechnungszeitraum), erfolgte diesbezüglich jedoch nichts. Die Einbeziehung von Gefangenen in die Sozialversicherung wurde unter den Vorbehalt eines zu verabschiedenden Bundesgesetzes gestellt. Aber seit fast 40 Jahren kommt keine parlamentarische Mehrheit im Deutschen Bundestag zustande, um diese sozialen Mindeststandards auch für Häftlinge per Gesetz zu beschließen.

Gefängnis als Ort des Kampfes

Der Knast ist fürwahr bislang kein Ort des sozialpolitischen Engagements gewesen. Der Verwahrvollzug ist sprichwörtlich zu verstehen. Fügung, nicht Regung war und ist die Devise. Mit der GG/BO haben sich Gefangene eine selbst organisierte Plattform geschaffen. Als »soziale Randgruppe« verfügen sie nun über eine eigene Lobby, über die sie sich in gesellschaftliche Debatten einbringen sowie Forderungen formulieren und durchsetzen können. Gefängnisse sind seitens der Gefangenen keine gewerkschaftsfreie Zone mehr!

Wir nehmen als gefangene Arbeiterinnen und Arbeiter unser Recht der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit nach Artikel 9, Absatz 3 des Grundgesetzes in Anspruch und unsere Interessen in die eigenen Hände. Wir nehmen das Sozialstaatsprinzip ernst und fordern in diesem Zusammenhang eine Gleichbehandlung von inhaftierten und nicht inhaftierten Menschen. Denn es ist völlig inakzeptabel, dass der Freiheitsentzug für die Gefangenen durch eine sozial- und arbeitsrechtlichen Diskriminierung zusätzlich verschärft wird. Eine solche Doppel- und Dreifachbestrafung ist schlicht und ergreifend rechtswidrig.

Unsere Aufgabe als GG/BO ist es, die ökonomische Klassensituation der gefangenen Kolleginnen und Kollegen über die Realisierung unserer Kernforderungen nach Sozialversicherung und Mindestlohn zu verbessern. Es muss ein Ende haben, dass der Einsatz der Arbeitskraft inhaftierter Menschen faktisch zum Nulltarif erfolgen kann. Die Zielsetzung ist, dass man mit einem Einkommen auch ein Auskommen hat – sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gefängnisses.

Der Kampf um die Arbeitsbedingungen im Allgemeinen und die Lohnhöhe sowie die Ausgestaltung der Arbeitszeit im Besonderen waren stets Konfliktpunkte zwischen jenen, die die Arbeitskraft abschöpfen und jenen, die sie anbieten. Das ist im Knast nicht anders, zumal die prekäre Arbeits- und Lebenssituation nicht nur Gesprächsstoff liefert, sondern auch eine Menge an Zündstoff bereit hält. Einer unserer zentralen Ansätze ist es, keine Konkurrenz zwischen einzelnen Beschäftigtengruppen aufkommen zu lassen, sondern als Einheit unabhängig von ethnischer Herkunft oder beruflichem Hintergrund aufzutreten. Wir erheben als GG/BO aber nicht nur für arbeitende Gefangene und gefangene Auszubildende unsere Stimme, damit bei letzteren z. B. eine Angleichung der Ausbildungsvergütung erfolgt wie bei nicht inhaftierten Menschen in einem Ausbildungsverhältnis. Wir fordern gleichfalls eine deutliche Erhöhung des sogenannten Sozialgeldes für die Gefangenen, die sich aufgrund einer chronischen Erkrankung oder Arbeitsunfähigkeit in keinem Beschäftigungsverhältnis befinden. Des weiteren unterstützen wir jene Inhaftierten, die sich bewusst gegen den staatlichen Arbeitszwang hinter Gittern positionieren und diese Form der unfreiwilligen Tätigkeit teilweise oder ausnahmslos verweigern.

Die Liste der Aktivitäten in der kurzen Geschichte der GG/BO ist bereits jetzt lang. Die folgende Aufzählung ist unvollständig, vermittelt aber einen Eindruck von dem, was die Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation praktisch ausmacht.

Die GG/BO ist wahrlich kein »Männerverein«. In der größten Haftanstalt für Frauen in Nordrhein-Westfalen, in Willich bei Köln, bildete sich die erste Frauensektion. In einem längeren Artikel in der tageszeitung (29.11.2015) berichteten die beiden Sprecherinnen Anja und Stephanie Meyer über ihre Tätigkeit hinter Gittern. Zwischenzeitlich waren mehr als 40 Frauen, etwa ein Fünftel der Insassinnen, in der Gewerkschaft organisiert. Aktuell finden sich inhaftierte Frauen in der JVA Chemnitz im Rahmen der GG/BO zusammen.

Von der Kita bis zum Ministerium

Mit einer »Aktivierenden Untersuchung« war es uns 2015 gelungen, genaueres über die verschiedenen Knastbetriebe zu erfahren. Mit einem Fragenkatalog baten wir Inhaftierte um Auskunft, welche externen Unternehmen und Landesbehörden in welchen JVA-Betrieben welche Produkte unter welchen Konditionen herstellen lassen. Die Ergebnisse haben wir beispielhaft für das Bundesland Niedersachsen zusammengetragen. Ein wesentlicher Lieferant von Informationen war unser GG/BO-Sprecher in der JVA Sehnde, Kai Rollenhagen. Erstes Ergebnis: Faktisch alle Landesbehörden von der Kindertagesstätte bis zu Ministerien lassen in den JVA-Betrieben produzieren. Zweites Ergebnis: Namhafte Unternehmen aus der Automobilbranche und der Elektroindustrie nutzen die Arbeitskraft Inhaftierter sozialabgabenfrei. Zum Beispiel lässt einer der weltweit größten Windkraftanlagenbauer, Enercon, über Subunternehmen in westniedersächsischen Haftanstalten elektronische Bauteile fertigen.

In der mittelhessischen JVA Butzbach sorgte Ende 2015 ein Hunger- und Bummelstreik für regionales Aufsehen. Jürgen Rössner organisierte unermüdlich die Streikfront hinter Gittern. Ein Dokument aus der JVA-Schlosserei lieferte den Zündstoff. Der darin enthaltenen offiziellen Statistik war zu entnehmen, dass der Lohnanteil der arbeitenden Gefangenen am jährlichen Reingewinn von drei Millionen Euro bei unter 0,4 Prozent lag. In Berlin und Frankfurt a. M. bildete sich ein »Netzwerk für die Rechte inhaftierter Arbeiterinnen und Arbeiter«, das Kontakte vor allem auch in den akademischen Bereich herstellen konnte. Auch wenn unter dem Strich die Forderungen nicht durchgesetzt werden konnten, so zeigte dieser öffentlich ausgetragene Konflikt doch, dass eine gewerkschaftspolitische Mobilisierung vor und hinter den Gefängnismauern möglich ist.

Ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Tätigkeit der GG/BO ist die Aufdeckung der mutmaßlichen »Klau- und Schmuggelwirtschaft« seitens Bediensteter in der JVA Tegel in Berlin, die Mitte September 2016 ein bundesweites Medienecho fand. Ein Netzwerk von 20 bis 30 Beamten und Angestellten der JVA ließ nach Angaben der beiden Whistleblower Timo F. und Benjamin L. Dienstleistungen und Waren von unter Billiglohnbedingungen arbeitenden Gefangenen für den Eigenbedarf oder Weiterverkauf aus den JVA-Betrieben herausschaffen. Besonders beliebt: Mobiliar aus der JVA-eigenen Tischlerei und Schreinerei sowie Materialien aus der Knastschlosserei wie etwa Edelstahlgrills.5 Diese »Tegel-Connection« kam mit Unterstützung der GG/BO an die Öffentlichkeit. Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelt mittlerweile gegen zwei Beamte.

Aber auch lokale Auseinandersetzungen um die Durchsetzung einer schikanefreien Gewerkschaftstätigkeit von unseren inhaftierten Mitgliedern waren immer wieder Thema. So in der JVA Untermaßfeld südwestlich von Erfurt im von Bodo Ramelow (Die Linke) regierten Thüringen. Postzensur und Zellenrazzien gegen engagierte Gewerkschafter hinter Gittern wie den örtlichen GG/BO-Sprecher David Hahn waren und sind im »Musterland« von »Rot-Rot-Grün« leider keine Ausnahme. Aber auch gegen die Verweigerung von nährstoffhaltigen Nahrungsmitteln oder erforderliche Sonderkost richtet sich der Widerspruch der GG/BO in den Thüringer Knästen.

Bereits vor etwas mehr als einem Jahr begab sich die Organisation auf einen »Expansionskurs«: »GG/BO goes Austria« lautete das Motto. Nach dem ersten Anstoß wurde es für einige Monate recht ruhig um den österreichischen Ableger der GG/BO, bis sich ein Kreis von Gefangenen in der Justizanstalt Graz-Karlau in der Steiermark gefunden hatte, der die Initiative ergriff. Georg Huß, Oliver Riepan und andere organisierten die erste Kampagne für Gewerkschaftsrechte in den Justizanstalten Österreichs. In Wien hat sich zwischenzeitlich ein personell erweiterter Solikreis für die österreichische GG/BO gebildet, der über seinen Blog die gewerkschaftspolitischen und menschenrechtlichen Aktivitäten dokumentiert.6

Die Geschichte von sozialen Bewegungen, die um Solidarität, Autonomie, Emanzipation und (tiefgreifende) Sozialreformen gerungen haben, ist gleichzeitig eine von staatlicher Verfolgung und behördlicher Kriminalisierung. Die Gewerkschaftsbewegungen waren hiervon »an vorderster Front« betroffen. Eine von ihnen geforderte Gesellschaftsveränderung löste bei den Machthabern nicht nur Argwohn aus, sondern zog eine verdeckte oder offene Bekämpfung von (Basis-)Gewerkschaftern nach sich.

Die GG/BO befindet sich in einer organisatorischen Schieflage. Drinnen Hunderte Mitglieder, und noch weit mehr Sympathisanten. Draußen ein, zwei, drei Handvoll Aktvistinnen und Aktivisten, die die Arbeit koordinieren. Die GG/BO hat sich in Teilen bereits regionalisiert, zum Teil lokalisiert. Dieser Prozess muss fortgesetzt werden. Denn es hat sich gezeigt, umso näher Soligruppen an den Haftanstalten sind, umso intensiver und kontinuierlicher fallen die Kampagnen hinter Gittern aus.

Es ist unerheblich, ob prekäre Arbeitsverhältnisse vor oder hinter den Knasttoren existieren – sie gehören generell abgeschafft. Gewerkschaftliche Solidarität ist an diesem wie an anderen Punkten unteilbar!

Rechtliche Anerkennung

Deshalb setzen wir auf einen intensiven Austausch von inhaftierten und nicht inhaftierten Kolleginnen und Kollegen aus den Einzelgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) sowie den Basisgewerkschaften der Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union (FAU) und den Industrial Workers of the World (IWW). Wir wissen, dass unser Erfolg wesentlich davon abhängt, ob die legitimen Kernforderungen der GG/BO Eingang in das breite Gewerkschaftsspektrum finden werden. Nur so lässt sich der erforderliche soziale Druck aufbauen, um letztlich mehrheitsfähig werden zu können.

Wenn wir über die Sozialversicherungspflicht und den Mindestlohn eine tendenzielle Angleichung der Arbeitsverhältnisse drinnen und draußen erzielen wollen, so ist das nur ein Schritt auf dem Weg zur vollen Gewerkschaftsfreiheit hinter Schloß und Riegel. Wir orientieren darauf, sowohl die Versammlungsfreiheit für GG/BO-Mitglieder im Knast als auch die Tariffähigkeit der GG/BO durchzusetzen. Damit ist unsere Forderung verbunden, dass auch für Gefangene das Betriebsverfassungsgesetz gilt, da sich die GG/BO nicht in den Rahmen der sogenannten Gefangenenmitverantwortung nach Paragraph 160 StVollzG pressen lässt. Damit dokumentieren wir nicht nur einen emanzipatorischen Akt, in der Unfreiheit des Knasts Freiheit zu reklamieren. Wir erlangen hierüber einen Gestaltungsraum und eine Beweglichkeit, die im Falle potentieller Arbeitskampfmaßnahmen von gefangenen Arbeiterinnen und Arbeiter nur von Vorteil sein werden. Die im Grundgesetz verankerte Koalitionsfreiheit steht uns zu, ohne jede substantielle Einschränkung!

Zwei Momente kennzeichnen eine gewerkschaftspolitische und -rechtliche Aktivität von Gefangenen im Knastalltag, die Verbindungslinien zur weiten Arbeitswelt vor den Toren der Haftanstalten schaffen können: Zum einen finden Methoden des »Union Busting« gegenüber der GG/BO und ihren Aktivistinnen und Aktivisten eine breite Anwendung. Damit ist nicht nur eine massive Behinderung der Gewerkschaftsarbeit gemeint, sondern der Versuch der JVA-Leitungen, eine weitere Ausdehnung der GG/BO mit Hilfe einer Vielzahl von Schikanen zu verhindern. Im Extremfall kann das bis zum gezielten Zerschlagungsversuch der gewerkschaftlichen Selbsthilfe reichen. Zum anderen haben wir es bei der Billigarbeit in den Knästen mit einem besonders eklatanten Fall im Niedriglohnsektor zu tun. In beiden Fällen ergeben sich jeweils Handlungsspielräume und Schnittstellen einer gegenseitigen Solidarisierung von beschäftigten und nicht beschäftigten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern vor und hinter den Knastmauern. Und genau dieses Band der Solidarität wollen wir Knoten für Knoten enger knüpfen.

Anmerkungen:

1 www.jva-shop-business.de/frontpage-style1/die-arbeitsbetriebe-der-niedersaechsischen-justiz-partner-der-wirtschaft.html

2 Siehe beispielsweise: www.vaw.de/unternehmen/niederlassungen/ravensburg.html

3 Jonas Mueller-Töwe: Geheime Verträge, versteckte Kosten. Warum private Dienstleister Deutschlands Gefängnisse nicht billiger, sondern teurer machen, https://kurzlink.de/E66DvEJQw

4 www.jva-shop-business.de/frontpage-style1/die-arbeitsbetriebe-der-niedersaechsischen-justiz-partner-der-wirtschaft.html

5 www.stern.de/wirtschaft/news/jva-tegel–die-unfassbaren-schmuggeleien-im-maennerknast-7109860.html

6 http://ggraus.blogsport.at

https://www.jungewelt.de/2017/02-27/057.php

Deutschland: »Justiz wird zum langen Arm Erdogans«

Türkische Kommunisten stehen wegen Aktivitäten für eine Gruppe vor Gericht, die hierzulande nicht verboten ist. Gespräch mit Süleyman Gürcan

Interview: Pit Beuttel
Seit Juni 2016 läuft in München ein großangelegter Staatsschutzprozess gegen insgesamt zehn Aktivistinnen und Aktivisten des Vereins ATIF im Rahmen des Paragraphen 129 b StGB. Was wird den Kommunisten vorgeworfen?

Nicht jeder Angeklagte ist ATIF-Mitglied. Drei Angeklagte wohnten in Österreich, der Schweiz und Frankreich. Aber die meisten sind Mitglieder von ATIK (Konföderation der Arbeiter und Arbeiterinnen aus der Türkei in Europa, jW). Den Aktivisten wird aber die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der Türkei – Marxisten-Leninisten, der TKP/ML, vorgeworfen. Sie ist nur in der Türkei verboten. Laut Bundesanwaltschaft soll die Organisation für den türkischen Staat »gefährlich« sein; die Angeklagten sollen Mittel und Gelder für die Organisation beschafft haben. Obwohl die TKP/ML hier nicht verboten ist, gilt sie in den Augen des deutschen Staates als »gefährliche Vereinigung«.

Wie erklären Sie sich den ausgeprägten Verfolgungswillen des deutschen Staates?

Es gibt verschiedene Gründe dafür. Ein wichtiger ist sicherlich, dass die Angeklagten sich als Kommunisten verstehen. Der deutsche Staat hat ja in Sachen Antikommunismus einige Erfahrungen. Die KPD ist beispielsweise in diesem Lande ja bis heute verboten. Zweitens ist die Beziehung zwischen Deutschland und der Türkei in historischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht sehr eng. Auch in der heutigen Zeit hat die Bundesrepublik ein Interesse am Nahen Osten und damit an der Türkei. Es seien hier nur genannt: der deutsche Militärstützpunkt in Incirlik, das Abkommen über Flüchtlinge mit Erdogan und natürlich wirtschaftliche Beziehungen. Drittens kann man sagen, dass Kommunisten und Revolutionäre, unter ihnen auch die TKP/ML, sich aktiv mit dem kurdischen Volk während des Kobani-Aufstands (die Befreiung Kobanis und ganz Rojavas, dem syrischen Teil Kurdistans, jW) solidarisiert haben. Es ist sicherlich eines der Ziele der Türkei, dass diese Solidarität zwischen Kurden und Revolutionären gestört und möglichst unterbunden werden soll.

Welche Rolle spielen die aktuellen Entwicklungen in der Türkei, etwa die Errichtung eines Präsidialsystems, im Prozess?

Für uns spielen sie eine große Rolle. Für die Richter dagegen offenbar gar nicht. Beim Übersetzungsskandal im vergangenen Jahr wurde bekannt, dass interne Briefe zwischen Anwälten und Mandanten ohne Verschlüsselung und Datenschutzgarantien in der Türkei übersetzt wurden! Das gleiche gilt für Dokumente. Darüber hinaus werden auch weiterhin Beweismittel aus der Türkei, die unter Folter »gewonnen« wurden, von der Bundesanwaltschaft genutzt. Das jetzige Verfahren ist daher ein Skandal.

In einer Ende Januar verbreiteten Erklärung vom Gefangenen Seyit Ali Ugur wird von Folter im Knast gesprochen. Können Sie mehr dazu sagen?

Seyit Ali Ugur hat in seiner Erklärung auf die Folter am Gefangenen Mehmet Yesilcali hingewiesen. An einem Prozesstag, bei dem Mehmet Yesilcali gesagt hatte, dass er krank sei, wurde der Prozess früh beendet. An genau diesem Tag wurde er im Knast komplett ausgezogen. Das soll mit Gewalt geschehen sein. Er soll dann bis zum nächsten Tag nackt in seiner Zelle auf den Arzt gewartet haben.

Was erwarten Sie vom Prozess und von der deutschen Justiz?

In Verfahren nach den Paragraphen 129 a und b funktioniert die Gewaltenteilung nicht. Die Regierung sagt, gegen wen solche Verfahren eröffnet werden sollen. Die Interessen der Staaten untereinander spielen hier die bei weitem größte Rolle. Wenn Erdogan einen harten Schlag gegen Revolutionäre oder Kurden sehen will, setzt das die deutsche Regierung um. Vergessen wir nicht: Aktuell sind in der BRD mehr als zehn kurdische Politiker im Knast. Die deutsche Regierung und damit die Justiz sind letztendlich zum langen Arm von Erdogan geworden.

https://www.jungewelt.de/2017/02-14/093.php

Deutschland: Freiheit für Aaron und Balu

Vor ca. 6-5 Jahren begann der Jubel der Investor*innen, dass es in
Berlin zu anhaltender Wertsteigerung von Immobilien kommt und keine
Preisblase in Sicht ist. Dementsprechend schritt die
Stadtumstrukturierung nach kapitalistischem Maße voran. Mietpreise
schossen bei stagnierenden Realgehältern in die Höhe, sodass auch
teilweise bürgerliche Kleinfamilien sich in Teilen von Friedrichshain
Kreuzberg oder Neukölln die Mieten nicht mehr leisten können. Linke
Wohnprojekte wie die Liebig 14 wurden geräumt, um Platz für
Investor*innen zu schaffen und Kieze, die für Selbige als hartes Terrain
gelten, zu „bereinigen“. So liegt es nah, dass sich Widerstand formt und
permanente Kämpfe gegen Gentrifizierung und für den Erhalt von linken
Freiräumen geführt werden.

Die Antwort der Herrschenden darauf ist Repression in Form von bspw.
(Zwangs-)Räumungen oder dem vom Innensenat ausgerufenen Gefahrengebiet,
welches mit staatlichem Terror einhergeht. Dieser Terror äußert sich in
dauerhaften polizeilichen und verdachtsunabhängigen Kontrollen von
Personalien, sowie der Schikanierung von Anwohner*innen oder auch nur
zufällig vorbeikommender Menschen. Fakt ist: Jeder Mensch, der sich
solidarisch mit dem Friedrichshainer Nordkiez zeigt, wird angegriffen.

Mensch bedenke, dass sich seit ungefähr 8 Monaten der Nordkiez in einer
Dauerbelagerung durch den permanenten Aufenthalt von ca. 2
Einsatzhundertschaften befindet. Dieser Gedanke wird noch abstruser, da
im Allgemeinen Ordnungs- und Sicherheitsgesetz (ASOG) nichts von einer
derartigen zeitlich und örtlich unbeschränkten Ausführung steht. Dazu
kommen verschiedene Höhepunkte von staatlichen illegalen Angriffen auf
die Rigaer94, wie die Hausdurchsuchung im Januar diesen Jahres, die von
550 Polizisten und einer Einheit des SEK, bewaffnet mit
Schnellfeuerwaffen, durchgeführt wurde. Dabei wurden 1,5 Tonnen Kohle
beschlagnahmt, die Wohnungen beschädigt und Bewohner*innen schikaniert.
Die radikale Linke antwortete am 6.2. mit der „rebellische Kiez
verteidigen“-Demonstration, bei der 5000 Demonstrant*innen ein
energisches und kraftvolles Zeichen gegen politische Repression und die
von der Politik befeuerte Gentrifizierung setzten.
Hiermit noch nicht genug! So wurden am 22.6.2016 die Kadterschmiede im
Erdgeschoss und der Dachboden der Rigaer94 geräumt und sollten von einem
Trupp Bauarbeiter renoviert werden. Bis zum Urteil des Berliner
Landesgerichts, welches die Räumung natürlich ohne entsprechenden Titel
am 12.7.2016, als illegal beurteilte, hielten sich ein großes Aufgebot
Polizisten*innen vor und in der Rigaer94 auf um die Bauarbeiten zu
„sichern“. Auch dieses Ereignis löste selbstverständlich Widerstand aus.
Enough is Enough!

Der Senat steckte auf diese Art und Weise eine Niederlage ein, die
besonders Einen traf: den Innensenator Frank Henkel(CDU), den Initiator
der staatlichen Angriffe. Seine Antwort war eine Sonderkommission LinX
ein zurichten, die sich lächerlich machte, in dem sie ihren eigenen
Informanten Marcel Göbel festnahm und das als Triumph feierte. Er
lieferte auch die Vorgabe an die Polizei die Solidaritätsdemonstration
am 9.7. eskalieren zu lassen. Nach dem zweimal von Seiten der Polizei
mit Knüppeln und Pfefferspray die Demonstrant*innen stark angegriffen
wurde, kam es im weiteren Verlauf zu 86 Festnahmen und 123 „verletzten“
Polizist*innen.

Aus diesen 86 wurden 2 Menschen ausgewählt, Aaron und Balu, die für die
Legitimation der Repression gegen Linke und der Law&Order-Politik
Henkels zur Verantwortung gezogen werden sollen und immer noch in
Untersuchungshaft sitzen. Mit anwältlicher Hilfe wurde bisher alles
erdenkliche unternommen, um unsere Gefährten wieder aus der
Untersuchungshaft zu holen. Die Richter*innen der ersten und zweiten
Haftprüfungen entschieden sich gegen Freilassung, da die Staatsanwältin
Sadri-Herzog eine Fluchtgefahr auf Basis vermeintlich ungeklärter
Wohnverhältnisse suggerierte und auf die vermeintliche Schwere der
Vorwürfe einging. Der Beschluss unsere Gefährten in Untersuchungshaft zu
stecken, dient lediglich der Zermürbung und dem Brechen der beiden. Sie
sollen sich vor Gericht als reuige, demütige Angeklagte zeigen.
Interessant ist auch, dass im Fall von Balu der Vorwurf der versuchten
gefährlichen Körperverletzung lediglich auf Aussagen von
Zivilpolizeizeugen basiert und keine geschädigte Person gefunden werden
konnte. Die vermeintliche Fluchtgefahr von Balu beruht darauf, dass er
Einblick in seine Wohnsituation erlaubte. Er gab an bei seiner Mutter
gemeldet zu sein, in einer WG in Münster zu leben und in Frankfurt ab
nächstem Semester studieren zu wollen. Aarons Fluchtgefahr wird mit
vielen Stempeln in seinem Reisepass und österreichischen Herkunft begründet.

Um weiter Druck aufzubauen, erklärte die Staatsanwältin sich dafür
einsetzen zu wollen, dass beide mehrjährige Haftstrafen erhalten. Für
uns ist klar, dass an Aaron und Balu ein Exempel statuiert werden soll,
das widerständige Menschen einschüchtern soll und der Abschreckung
dient, sich gegen eine Stadtumstrukturierung nach kapitalistischen
Maßstäben aufzulehnen, sowohl als die herrschenden Verhältnisse
anzugreifen. Gleichzeitig muss Henkel seinen Wahlkampf, der sich wie
beschrieben an der radikalen Linken abarbeitet, verteidigen. Für Henkel,
der für seine Law&Order-Politk bekannt ist, gilt es zu vermeiden von
konservativen Teilen der Bevölkerung als schwach zu gelten. So fischt er
auch auf Kosten auf unserer Gefährten nach Stimmen, die er der AFD zur
kommenden Berlinwahl im September abringen möchte.

Angesichts der bestehenden Gegebenheiten betrachten wir rebellisches
Verhalten als eine Notwendigkeit, um die bestehenden
Herrschaftsverhältnisse anzugreifen, abzuschaffen und nach
freiheitlichem Maßstäben umzugestalten! Wir zeigen uns bedingungslos
solidarisch mit Aaron und Balu und möchten euch auffordern dasselbe zu
tun! Werdet aktiv und kreativ! Schreibt den Beiden! Spendet, um kommende
Repressionskosten abzudecken und deren Anwalt zu finanzieren!

Unsere Solidarität gegen ihre Repression! Freiheit für Aaron und Balu!

Rote Hilfe OG Berlin

Addressen:
Aaron
Balu
RH-Berlin
Stadtteilladen Lunte (Neukölln)
Weisestraße 53
12049 Berlin

Als Absender könnt ihr unsere Adresse angeben. Bitte schreibt uns eine Mail
mit deinem im Brief verwendeten Namen, damit wir Briefe an euch
weiterleiten können.

Spendenkonten:

Rote Hilfe e.V.
GLS-Bank
IBAN: DE55 4306 0967 4007 2383 17
BIC: GENODEM1GLS
Stichwort: support Aaron und Balu

oder

Schwarz-Rote-Hilfe Münster
Kontonr.: 282052468
BLZ 440 100 46
Postbank Dortmund
Stichwort: support Aaron und Balu

Wenn ihr euch weiter informieren wollt. Homepage des Solikreises für
Aaron und Balu:
https://aaronbalu.blackblogs.org/ oder berlin.rote-hilfe.de

Deutschland: PRESSEERKLÄRUNG DER VERTEIDIGUNG

Presseerklärung der Verteidigung in dem 129b-Verfahren gegen 10 türkische/kurdische KommunistInnen vor dem OLG München.

Aus dem „Putsch nach dem Putsch“ müssen die deutschen Behörden jetzt Konsequenzen ziehen.

Verteidigung fordert die Rücknahme der Verfolgungsermächtigung und die sofortige Einstellung des Strafverfahrens.

Seit dem 17. Juni 2016 wird vor dem OLG München das Verfahren gegen 10 vermeintliche Mitglieder der TKP/ML (Türkische Kommunistische Partei/Marxistisch-Leninistisch) wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129b StGB) geführt. Die TKP/ML ist in Deutschland nicht verboten und findet sich auch nicht auf internationalen Terrorlisten. Allein die Türkei deklariert sie als terroristische Organisation.

Der Einleitung dieses Strafverfahrens liegt eine außenpolitische Entscheidung, nämlich die Erteilung der sogenannten Verfolgungsermächtigung durch das Bundesjustizministerium (BMJV) zugrunde: Ob eine Strafverfolgung durchgeführt wird hängt davon ab, ob diese den Interessen der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Maßgebend soll dabei nach dem Gesetz u.a. sein, ob sich die Ziele der Vereinigung gegen einen ausländischen Staat richten, der die Würde des Menschen achtet.

Bereits mit Presseerklärung vom 17. Juni 2016 hat die Verteidigung unter Hinweis auf die Menschenrechtsverletzungen und totalitären Tendenzen in der Türkei die Rücknahme der Verfolgungsermächtigung durch das Bundesjustizministerium und die Einstellung des Verfahrens gefordert.

Die “Maßnahmen“ der AKP-Regierung seit dem 15. Juli 2016 zeigen der gesamten Welt, dass sich die Türkei auf dem Weg zu einem offen diktatorisch agierenden Staat befindet, der sämtliche demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien über Bord wirft. Die Menschenwürde und Menschenrechte werden missachtet. Die Entwicklung in der letzten Woche, der „Putsch nach dem Putsch“, muss auch zu Konsequenzen in der Politik der Bundesregierung führen. Allein der konsequenzlos bleibende Ausdruck einer „Besorgnis“ kann nicht mehr ausreichen. Das gegen unsere Mandanten geführte Verfahren musste schon bisher als Auftragsarbeit für Erdogan und sein Regime verstanden werden. Eine Fortführung dieses Strafverfahrens würde nach den Geschehnissen der letzten Tage eine Legitimierung der antidemokratischen und antirechtsstaatlichen Maßnahmen Erdogans bedeuten. Oder, in der Formulierung des verfolgten Istanbuler Journalisten Can Dündar, einen „Tritthocker unter die Galgen in der Türkei“.

Spätestens nach der Verhängung des Ausnahmezustands ist offensichtlich, dass der türkische Staat keine die Würde des Menschen achtende staatliche Ordnung ist.

Diese veränderten außenpolitischen Umstände können und müssen deshalb zu einer Rücknahme der Verfolgungsermächtigung führen, will sich die Bundesregierung nicht zum Handlanger der Autokratie Erdogans machen.

Wir fordern deshalb das BMJV auf, die Verfolgungsermächtigung in Bezug auf unsere Mandanten zurückzunehmen.

Hintergrund

Der gescheiterte Militärputsch wird von der AKP-Regierung zum Anlass genommen, offensichtlich schon lange vorbereite „Säuberungsaktionen“ durchzuführen. Unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung sind allein in den letzten Tagen ca. 65.000 Richter, Staatsanwälte, Beamte und Polizisten, Militärs, Hochschullehrer und Lehrer suspendiert und/oder verhaftet worden. Erdogan-kritische Radio- und Fernsehsender werden abgeschaltet. Am 20. Juli 2016 wurde für die gesamte Türkei der Ausnahmezustand verhängt.

Menschen, die deutliche Spuren der Folter aufweisen, werden öffentlich zur Schau gestellt. Lynchjustiz wird toleriert und die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert. Andersdenkende und Minderheiten werden gezielt eingeschüchtert und angegriffen. Wir erleben eine islamistische Mobilmachung gegen jede Form der Abweichung. Die türkische Regierung erklärt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) für derzeit nicht anwendbar. Die Gewaltenteilung ist aufgehoben.

München, den 21.07.2016

Information
https://www.tkpml-prozess-129b.de
RA Alexander Hoffmann: info@anwalthoffmann.de
RA Dr. Peer Stolle: stolle@dka-kanzlei.de
Verteidigerinnen und Verteidiger

RA Rainer Ahues
RA Sinan Akay
RAin Antonia von der Behrens
RA Berthold Fresenius
RA Marvin Hegermann
RA Martin Heiming
RA Manfred Hörner
RA Alexander Hoffmann
RA Frank Jasenski
RA Dietmar Kleiner
RA Ulrich v. Klinggräff
RA Stephan Kuhn
RA Roland Meister
RAin Franziska Nedelmann
RA Bernhard Pradel
RA Iñigo Schmitt-Reinholtz
RA Yener Sözen
RA Dr. Peer Stolle
RA Yunus Ziyal

21.07.2016 Presseerklärung der Verteidigung

 

Venezuela: Bernhard Heidbreder seit zwei Jahren inhaftiert

Am 11. Juli 2016 sind es zwei Jahre, die Bernhard Heidbreder nun in Venezuela inhaftiert ist. Bedauerlicherweise hat sich seit dem letzten hier veröffentlichten Text von Anfang Februar 2016 an der Situation fast nichts geändert. Im folgenden ein paar Sätze zur Situation in Venezuela und zu den jüngsten Entwicklungen in Deutschland.

1. Venezuela: Im Westen nichts Neues

Ende Oktober 2015, also vor acht Monaten, hat der Oberste Gerichtshof Venezuelas entschieden, dass Bernhard Heidbreder nicht an die deutschen Behörden ausgeliefert wird. Das Gericht hätte eigentlich schon spätestens Ende Februar 2015 entscheiden müssen, überzog die Frist aber um rund acht Monate. Trotzdem wurde er nicht aus der Haft entlassen, da das Gericht keine Entlassungsanordnung erließ, sondern den Fall zur Entscheidung über Bernhards Haft und seinen Aufenthaltsstatus in Venezuela an die Immigrationsbehörde SAIME übertrug.

Was SAIME seitdem an Tätigkeiten entfaltet hat, ist weitgehend unklar. Für die andauernde Haft von Bernhard gibt es weder eine Rechtfertigung noch eine offizielle Begründung. Das Strafverfahren gegen ihn wegen der Einreise und Einbürgerung mit gefälschten Ausweispapieren wurde bereits Ende Oktober 2014 von einem Gericht in Mérida endgültig eingestellt.

Bernhard ist nunmehr seit zwei Jahren in Venezuela inhaftiert. Seit Anfang 2015 befindet er sich in einer bürokratischen Grauzone, die aus einem Buch von Kafka stammen könnte: Ein Gericht, das seine eigenen Fristen ignoriert. Eine Behörde, die gerichtliche Anordnungen nicht beachtet und mit anderen Behörden aus Prinzip nicht zusammenarbeitet. Eine andere Behörde, die offenbar noch mit den verordneten zwei Tagen Wochenarbeitszeit überfordert war und ist. Die Einschaltung hochrangiger Behördenvertreter, Politiker und selbst des Menschenrechtsausschusses des venezolanischen Parlaments hat bisher nichts bewirkt. Wir warten gespannt und besorgt darauf, wie das laufende Asylverfahren von Bernhard ablaufen wird. Es besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass Bernhard irgendwann aus Venezuela ausgewiesen wird.

Obwohl es in den letzten Wochen immer wieder Signale aus der Bürokratie gegeben hat, wonach in der einen oder anderen Weise an einer positiven Lösung gearbeitet werde und der Fall „bald” gelöst sei, haben wir das Vertrauen in derartige, zu oft gehörte offizielle Bekundungen längst verloren. Alle, die sich mit Bernhard solidarisch zeigen wollen – insbesondere in Venezuela selbst –, rufen wir erneut auf, sich für seine sofortige Freilassung einzusetzen, und auch andere Menschen über Bernhards Situation zu informieren.

2. Was in Deutschland geschieht

Zeugenvorladung

Am 24.02.2016 war, wie hier berichtet, eine Person aus dem ehemaligen sozialen Umfeld eines der Beschuldigten im K.O.M.I.T.E.E.-Verfahren zur zeugenschaftlichen Aussage beim Berliner Landeskriminalamt vorgeladen worden. Da sie die Aussage verweigerte, wurde vom Vertreter der Bundesanwaltschaft ein Ordnungsgeld in Höhe von 250 € verhängt, bei dessen Nichtzahlung eine Woche Ordnungshaft anfalle. Durch die Anwältin wurde dagegen Beschwerde beim Bundesgerichtshof eingelegt und ein Recht auf Aussageverweigerung gemäß § 55 StPO (Gefahr der Selbstbelastung) geltend gemacht. Weiter wurde beantragt, die offensichtliche Verjährung der meisten Tatvorwürfe festzustellen und Akteneinsicht in das gesamte Verfahren zu gewähren. Zudem solle das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des einzigen verbleibenden Tatvorwurfs, § 30 StGB, „Verabredung zu einem Verbrechen“ (siehe unten).

In seiner umfassenden Weisheit hat der Bundesgerichtshof am 13.05.2016 sämtliche Ansinnen der Bundesanwaltschaft abgenickt, die Verhängung des Ordnungsgeldes in Höhe von 250 € bestätigt, das Akteneinsichtsgesuch zurückgewiesen und auch verneint, dass die Strafvorschrift über die Verabredung zu einem Verbrechen verfassungswidrig sein könnte.
Bezüglich der Ordnungshaft, die zu verhängen sei, falls die 250 € nicht bezahlt werden, hat der BGH diese Androhung zwar aufgehoben, da nur ein Gericht dies anordnen könne und nicht etwa die Staatsanwaltschaft. Aber nicht zu früh gefreut, auch hier lässt Kafka grüßen. Wir zitieren:

„Die Entscheidung des Generalbundesanwalts vom 24.02.2016 … wird mit der Maßgabe aufrecht erhalten, dass
a) die ersatzweise verhängte Ordnungshaft von einer Woche entfällt
b) für den Fall, dass das Ordnungsgeld nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft für die Dauer von sieben Tagen festgesetzt wird.“

Was alle JurastudentInnen schon wussten, nun also für alle: Eine Woche ist nicht gleich sieben Tage! Kurz und schlecht, das Ordnungsgeld wurde gezahlt, aber…

…gleich danach ist erneut Post von der Bundesanwaltschaft eingetroffen. Die nächste zeugenschaftliche Vernehmung soll am 09.08.2016 in Karlsruhe am Sitz des Generalbundesanwalts stattfinden. Eine Ordnungshaft von bis zu sechs Monaten könnte unmittelbar im Anschluss daran drohen.

Haftbeschwerde

Unabhängig von diesen Ereignissen ist mittlerweile von den AnwältInnen der als angebliche Mitglieder des K.O.M.I.T.E.E. Gesuchten Beschwerde gegen die Haftbefehle beim Bundesgerichtshof eingelegt worden. Da alle konkreten Tatvorwürfe im Fall K.O.M.I.T.E.E. inzwischen verjährt sind, bleibt der Bundesanwaltschaft nur noch die „Verabredung zu einem Verbrechen“ gem. § 30 StGB für ihre Ermittlungen. Diese Vorschrift verletzt das Schuld- und Rechtsstaatsprinzip und ist deshalb verfassungswidrig. Die Strafandrohung und die daraus folgende 40-jährige absolute Verjährungszeit stehen außer Verhältnis zur Schuld. Es ist absurd, dass die Verabredung zu einer Tat, auch wenn sie dann gar nicht stattfindet, härter bestraft und länger verfolgt werden kann als die darauf folgende konkrete Vorbereitung dieser Tat. Sollte das Bundesverfassungsgericht oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dieser Argumentation folgen, wäre das Ermittlungsverfahren endgültig einstellungsreif.

Doch selbst wenn am Ende eine positive Entscheidung stehen sollte, werden bis dahin wohl noch viele Monate vergehen. Und es wird eine Menge Geld kosten, diesen Weg von Gericht zu Gericht zu gehen. Wir sind also weiterhin auf Spenden und Unterstützung angewiesen!

http://dageblieben.net/

Brief von Sinan Aydin: Alltag im Knast / 11.03.2016

Liebe Genossen,

ich habe den Brief den Ihr mir am 30.12.2015 geschickt habt erst heute
(11.03.2016) bekommen. Leider verspätet sich alles wenn es solch massive
Kontrollen gibt. Es ist völlig egal wie schnell ich euch zurückschreibe,
ich vermute meinen Brief werdet ihr erst in ein paar Monaten bekommen.

Ich werde auf das Schreiben von euch eingehen obwohl ich mir dessen
bewusst bin, dass es bis zum 18.03., dem Tag der politischen Gefangenen,
nicht reichen wird. Außerdem habt ihr auch geschrieben, dass ich auch
über andere Themen schreiben kann. Wenn Ihr mir beim nächsten Brief
schreiben könnt was es für Themen es sein sollen und ob ihr meine Briefe
übersetzen lassen könnt, würde ich mich freuen.

Seit dem 15. April 2015 bin ich wegen dem TKP/ML Prozess in Kaisheim
inhaftiert. Vom ersten Tag bis 31.August war ich einer kompletten
Isolation ausgesetzt gewesen. (Wie die anderen Genossen die wegen
demselben Verfahren sitzen)

In einer kompletten Isolation, durfte ich morgens eine Stunde alleine
zum Hofgang. Nachdem ich danach alleine duschen durfte saß ich 23
Stunden lang in meiner Zelle ohne jeglichen Kontakt. Bei der Ausgabe von
Essen haben sie mir das Essen sogar entweder als erstes oder als letztes
das Essen gegeben. Wenn ich zum Arzt musste, bin ich als Einziger
hingegangen. In Wartezimmer war außer mir niemand da. Also, in den
ersten 4 Monaten habe ich / haben wir niemandem außer Vollzugsbeamten
oder die, die essen verteilen gesehen. 2mal im Monat habe ich meine
Familie, die zu Besuch da war, gesehen. Das war die einzige Zeit wo ich
mit jemandem gesprochen habe. Zu diesem Zeitpunkt habe ich auch in
einigen Briefen erwähnt, dass ich den ruhigen Sinan in mir entdeckt
habe, der eigentlich sehr gerne spricht.

Zu diesem Zeitpunkt fing mein Tag morgens um 6 Uhr mit der Stimme von
Beamten, die vorbeigekommen sind und nach mir geschaut haben mit einem
„Guten Morgen“, an. Aktuell fängt mein Tag immer noch so an. Von Anfang
an hatte ich einen Fernseher in meiner Zelle. Nachdem ich aufgestanden
bin habe ich ihn sofort angemacht, um ATV, einen türkischen Sender,
einzuschalten, um die Nachrichten zu sehen; bis der Vollzugsbeamte mich
zum Hofgang abgeholt hat. (07:30 Uhr)

In der Zeit habe ich wie Nazim es gesagt hatte mich im Spiegel
angeschaut und rasiert.* Ich mache es immer noch so mit dem einzigen
Unterschied, dass der Hofausgang um 8:45 Uhr stattfindet. Die
Nachrichten dauern auch bis dahin an.

Dieser Sender ATV und die die Nachtrichten senden sind mehr Erdogan als
er es selber ist und somit niederträchtig. Das heißt, dass mein Tag mit
dem psychischen Terror schon beginnt.

Ihr fragt euch jetzt bestimmt wieso ich es dann anschaue. Erstens: Es
ist der einzige Sender auf Türkisch. Zweitens: Durch die ständig
durchlaufenden Untertitel kann ich Nachrichten lesen. So bekomme ich
Informationen. Drittens wenn ich Zeitungen lese oder Nachrichten höre
kann ich dann die Widersprüchlichkeiten herausziehen. Somit bekomme ich
einen besseren Eindruck auf das Geschehen. Die deutschen Nachrichten
sind schlimm. Wenn es um Türkei, Kurdistan und menschenverachtendes
Verhalten geht spielen sie die drei Affen.

Wenn ich zu meinem Alltag zurückgehe, nachdem ich aus der kompletten
Isolation raus bin, habe ich angefangen täglich die Hürriyet, die
(Özgür) Politika und die Junge Welt zu bekommen. Die habe ich natürlich
komplett durchgelesen. Ich habe Druck bei der Vollzugsleitung gemacht
und habe Bücher bekommen, um Deutsch lernen zu können. Damit habe ich
auch angefangen.

Monatelang durfte ich keine türkischen Bücher von Außen bekommen.
Nachdem Ende August der Druck erhöht worden ist habe ich das Kapital
Band 1 von außen erhalten. Jetzt habe ich auch das 2. Buch und bin schon
fast damit durch. Das dritte werde ich auch noch erhalten.

Während der Isolation habe ich versucht täglich eine Stunde Sport zu
machen. Kurz gesagt verbringe ich die Zeit des Tages so:

– morgens um 6 aufstehen,
– TV und Nachrichten,
– mich frisch machen und rasieren
– zwischen 07:30 – 08:30 Uhr Hofgang
– 08:30 – 09:00 Uhr: Duschen,
– 09:00 – 11:00 Uhr: deutsche Nachrichten. Die Artikel der Zeitungen,
die nicht gelesen worden sind, lesen und Kreuzworträtsel, Bücher zum
Deutschlernen,
– 11:00 – 12:00 Uhr: Mittagessen,
– 12:00 – 13:00 Uhr: Türkische Nachrichten,
– 13:00 – 14:00 Uhr: ausruhen evtl. schlafen,
– 14:00 – 17:00 Uhr: Zeitungen die frisch gekommen sind, lesen,
– 17:00 Uhr: Abendessen,
– 18:00 – 19:00 Uhr: Türkische Nachrichten,
– 19:00 – 20:00 Uhr: Deutsche Nachrichten,
– zwischen 20:00 – 00:00 Uhr habe ich, wenn es einen schönen Film auf
deutschen Kanälen lief, diesen angeschaut oder gelesen.

Jetzt ist es morgens genauso.

– 08:45 – 10:00 Uhr: Hofausgang,
– 10:00 – 11:00 Uhr: Duschen und Mittagessen kommt.
– 11:00 – 12:15 Uhr: Essen und ausruhen.
– 12:15 – 13:30 Uhr: Sport (montags, dienstags, mittwochs und
donnerstags). Zu dieser Zeit ist die Zellentür offen und es ist
Duschzeit. In dieser Zeit habe ich die Möglichkeit mich mit den anderen
Gefangenen zu unterhalten oder Schach zu spielen.
– Zwischen 15:00 – 00:00 verbringe ich meine Zeit in meiner Zelle damit
deutsch-türkische Nachrichten anzuschauen, Lesen oder damit Filme
anzuschauen.

Am Freitag, Samstag und Sonntag sind die Zellentüren ab 11 Uhr
geschlossen bis zum nächsten Tag 08:45 Uhr.
Ich mache auch an diesen Tagen immer dasselbe bis auf das, dass ich an
diesen Tagen Briefe beantworte. Wenn unter der Woche ein Champions
League Spiel kommt, dann schaue ich es mir an. Damit ich ein gutes
Gewissen habe löse ich während der Zeit Kreuzworträtsel.

Wenn ich zu dem Punkt komme wie es bis jetzt für mich läuft, kann ich
nur sagen, dass ich kein Problem hatte mich an die neue Situation zu
gewöhnen.

Deutschland: »Gewaltenteilung wird zur Farce«

Am Freitag begann in München ein Prozess gegen türkische Revolutionäre. Die Ermächtigung dazu hat das Justizministerium gegeben. Ein Gespräch mit Roland Meister
Interview: Kevin Hoffmann, junge Welt 21.6.2016

Roland Meister ist Rechtsanwalt aus Gelsenkirchen und vertritt Sami Solmaz

Am vergangenen Freitag begann der Prozess gegen zehn türkische Revolutionäre vor dem Oberlandesgericht München. Die Beschuldigten sind Aktivisten der »Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa«, ATIK. Was wird ihrem Mandanten und den anderen Angeklagten an konkreten Straftaten vorgeworfen?

Unsere Mandanten werden nach Paragraph 129b Strafgesetzbuch angeklagt. Ihnen wird aber keine konkrete Straftat vorgeworfen. Man hält ihnen vor, dem sogenannten Auslandskomitee der »Türkischen Kommunistischen Partei/Marxistisch-Leninistisch«, TKP/ML, anzugehören. Nach den Paragraphen 129 a und b besteht hier die Möglichkeit zur Bestrafung mit bis zu zehn Jahren Gefängnis. Mit diesen Paragraphen wurde in Deutschland in den letzten Jahrzehnten ein umfassendes Instrumentarium zum Kampf gegen den sogenannten Terrorismus entwickelt. Seit dem August 2002 wird es insbesondere zur Unterdrückung und Kriminalisierung fortschrittlicher und revolutionärer Organisationen im Ausland eingesetzt. Seither wurden mehrere hundert Verfahren gegen Menschen, die linken Kräften in der Türkei angehören sollen, eingeleitet. In der Regel endeten sie mit Haftstrafen. Gegenwärtig sind vor den Staatsschutzsenaten verschiedener Oberlandesgerichte in Deutschland Verfahren gegen angebliche Angehörige der »Arbeiterpartei Kurdistans«, PKK, bzw. der »Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front«, DHKP/C, anhängig.

Welches Verständnis der Begriffe »Terrorismus« oder »terroristische Organisation« liegt dem Verfahren zugrunde?

Die TKP/ML wird als »ausländische terroristische Vereinigung« bezeichnet. Im internationalen Völkerrecht gibt es keine einheitliche Definition, was »Terrorismus« bzw. eine »terroristische Vereinigung« sind. Bereits selbständige Arbeitskämpfe werden mitunter als »Terrorismus« bezeichnet. Nach der gesetzlichen Regelung in Paragraph 129a gelten Taten als terroristisch, die darauf zielen, einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich zu schädigen. Der TKP/ML und den Angeklagten wird vorgeworfen, in der Türkei gegen das Erdogan-Regime zu kämpfen, um es zu stürzen und statt dessen eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Der revolutionäre Befreiungskampf wird so als Terrorismus abgestempelt.

Worauf beruft sich die Bundesanwaltschaft im Verfahren gegen die Angeklagten?

In der Anklageschrift werden u. a. Hunderte abgehörte Telefonate oder SMS genannt, die teilweise über Jahre gesammelt wurden. Vorgeworfen wird den Angeklagten etwa das Sammeln von Spenden, das Schreiben von Berichten. Aus anderen Verfahren wissen wir, dass das Organisieren eines Dönerstandes als mitgliedschaftliche Betätigung angesehen werden kann. Was die Beweise angeht, stützt man sich auf eine umfassende Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Geheimdiensten und der Polizei, die sich regelmäßig zur sogenannten Terrorismusbekämpfung treffen. Das Verfahren in München hat deshalb eine besondere Funktion, da es sich auch gegen kämpferische migrantische Strukturen richtet, hier der ATIK. Weder sind die TKP/ML oder die ATIK in Deutschland verboten, noch stehen sie auf der sogenannten Antiterrorliste der EU.

Wie bewerten Sie aus politischer Sicht das Verfahren?

In Paragraph 129b wird das juristische Vorgehen gegen einzelne Gruppierungen mit den Interessen der Bundesregierung vermengt. Die Strafverfolgung hängt von einer politischen Entscheidung der Bundesregierung ab, konkret einer Ermächtigung des Bundesministeriums der Justiz. Die Regierung hat diese ausdrücklich erteilt. Ihr ist dabei nicht unbekannt, dass mit der TKP/ML und der PKK Kräfte kriminalisiert werden, die an führender Stelle im Kampf gegen den faschistisch-islamistischen »Islamischen Staat« stehen. Die deutsche Regierung unterstützt mit diesen Ermächtigungen das reaktionäre Erdogan-Regime. Zugleich wird die Gewaltenteilung durch die Ermächtigung der Bundesregierung zu einer Farce.

Ihr Mandant sitzt bereits in Untersuchungshaft. Wie gestaltet sich die?

Die Angeklagten sitzen jetzt seit mehr als 14 Monaten in Untersuchungshaft. Vier der Angeklagten wurden von anderen europäischen Ländern an Deutschland ausgeliefert. Die Verteidigung wird eingeschränkt. So können wir mit unseren Mandanten nur durch eine Trennscheibe reden. Auch der Briefwechsel wird kontrolliert, und es dauert Wochen, bis uns Briefe unseres Mandanten erreichen. Gegen meinen Mandanten betreibt die türkische Regierung ein Auslieferungsverfahren. Ihm droht in der Türkei erneut Folter, nachdem er dort bereits mehrere Jahre lang inhaftiert war und gefoltert wurde.Interview: Kevin Hoffmann

Was will Deutschland von der Türkei?

In der letzten Zeit und insbesondere seit dem Start der Flüchtlingswelle aus der Türkei in die EU, gab es zwischen der Türkei und Deutschland anlässlich der Flüchtlingsfrage, die zu einer Krise heranreifte, eine Diplomatie, die es vielleicht seit dem II. Weltkrieg nicht mehr gab. Die Türkei spielt unumstritten die Schlüsselrolle bei der Behinderung der Flüchtlinge aus Afghanistan, Pakistan, dem Irak und Syrien bei der Einreise in die EU.

Aus diesem Grund hat Deutschland, die stärkste Kraft innerhalb der EU, genau die Schritte in der Flüchtlingsfrage unternommen, die Merkels Politik entsprechen, um das Flüchtlingsproblem zu lösen. Das Resultat dieser Schritte war das Abkommen zwischen der Türkei und der EU in der Flüchtlingsfrage. Die wichtigsten Säulen dieses Abkommens sind die Zahlung von 6 Milliarden Dollar der EU an die Türkei bis 2018, die Abschaffung der Visapflicht für türkische Staatsbürger bei Einreise in die EU, im Gegenzug dafür soll die Türkei den Flüchtlingsstrom an der Einreise in die EU hindern und die zurückgesandten Flüchtlinge akzeptieren. In den letzten Tagen gab es bezüglich der Visafrage einige Debatten, so dass die Wahrscheinlichkeit, dass das Abkommen scheitert, sehr hoch ist.

Die Türkei wurde seit 2015 von keinem anderen hohen ausländischen politischen Staatsvertreter so oft besucht wie Merkel. Es ist bekannt,dass Merkel für Erdogan, Davutoglu, der Türkei allgemein sowie seinen Staatsbürgern gegenüber keine besondere Sympathie hegt. Trotzdem kann es nicht sein, dass Merkel nur aufgrund der Flüchtlingsfrage regelmäßig Erdogan und Davutoglu besucht. Ihr Interesse an der Flüchtlingsfrage bedingt nicht den regelmäßigen Besuch der Türkei, dies hätte sie auch mit anderen diplomatischen Mitteln lösen können.

Hinter diesem großen Interesse des deutschen Imperialismus steckt ganz offen der Profit im Mittleren Osten. Der deutsche Imperialismus möchte sich ganz direkt an den Entwicklungen im Mittleren Osten mittels der Kriege in der Türkei und in Syrien beteiligen. Es reicht ihm nicht aus, im Mittleren Osten aktiv durch die EU oder die NATO vertreten zu sein.

Doch nicht nur Deutschland sondern die gesamte EU ist im Punkte Energie auf der Basis von Erdgas sowie dem Transport von Russland abhängig. Um dieser Abhängigkeit ein Ende zu setzen, muss Energie aus dem Iran und dem Mittleren Osten (die Energiefelder im östlichen Mittelmeer eingeschlossen) sowie dem Kaspischen Becken (Aserbaidschan,Türkmenistan) in den europäischen Markt hineintransportiert werden. Und der einzige Weg, der dahin führt, führt durch die Türkei.

Das Sykes-Picot-Abkommen, welches 1916 zwischen Frankreich und Großbritannien geschlossen wurde, um die eigenen kolonialen Interessensgebiete im Mittleren Osten festgelegt wurden, ist nun somit praktisch ungültig. Dies zeigen die kurdische Freiheitsbewegung, die Zerteilung des Irak sowie der Krieg in Syrien. Bei der strategischen und energiebasierenden Neuaufteilung des Mittleren Ostens möchte der deutsche Imperialismus direkt seine eigenen Interessen durchsetzen und führt entsprechend seine Beziehung mit der Türkei statt im Namen der EU zu handeln.

Die aktive Rolle des deutschen Imperialismus‘ an den Entwicklungen im Mittleren Osten darf nicht vergessen werden; die Waffe, mit der Rafik Hariri 2005 ermordet worden war, stammte aus der Hand Deutschlands übergeben an die USA und Israel. Es war auch Deutschland, das 2012 in Abu Dhabi die Versammlung der „Freunde Syriens“ organisierte; welche dem Aufteilen der Erdgasfelder in Syrien dienen sollte. Deutschland steht an der Spitze der Länder, welche die Versammlungen in Genf verfolgen. Aufgrund des Kampfes gegen die IS sowie die Flüchtlingsfrage beteiligt sich Deutschland am Beispiel von Syrien direkt an den Problemen im Mittleren Osten. Daher forderte Deutschland die kurzfristige Stationierung auf Incirlik, was die Türkei erlaubte.

Der deutsche Imperialismus ist heutzutage der wichtigste Unterstützer der faschistischen Diktatur in der Türkei und des Diktators Erdogan. Deutschland ist eines der Länder, das der Bombardierung der Städte in Nordkurdistan und der Ermordung der kurdischen Bevölkerung zuschaut. Es ist eines jener Länder, das die Massaker durch die faschistische Diktatur seit Monaten ausblendet und „Jeder Staat hat das Recht dazu“ sagt. Das Verständnis von Demokratie wird nur noch auf die Aufhebung der Einschränkung der Pressefreiheit beschränkt. Es ist jedoch auch Deutschland, das die türkische Politik des „sicheren Gebiets“ und „dem Gebiet, in dem Fliegen verboten ist“, was Erdogan ständig erwähnt, verteidigt. Merkel bringt dies immer wieder zur Sprache.

Der deutsche Imperialismus möchte sich an der Neuaufteilung des Mittleren Ostens beteiligen und glaubt daran, es über die Türkei tun zu können.

mlkp, Internationales Bulettin 163

Wienke Zitzlaff: »Ich hatte ein vertrautes Verhältnis zu meiner Schwester«

Gespräch. Mit Wienke Zitzlaff. Über Ulrike Meinhofs politischen
Werdegang, ihre Haft und die Umstände ihres Todes
junge Welt 7.5.2016

Als Ulrike Meinhof vor vierzig Jahren starb, war sie 41, ihre Schwester
Wienke 44. Die beiden hatten jede ihre eigene politische Geschichte,
über die sie sich intensiv austauschten. Nach der Verhaftung ihrer
Schwester 1972 hat Wienke sich jahrzehntelang für die Gefangenen aus der
RAF eingesetzt, gegen die Isolationshaft und für ihre Freilassung.

Ron Augustin war ab 1971 in der RAF und war von 1973 bis 1980 wegen
Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung in verschiedenen
Gefängnissen fast ununterbrochen in Einzelhaft

Es gibt einen Dokumentarfilm, der die Umstände des Mordes an dem ersten
Ministerpräsidenten des unabhängigen Kongo, Patrice Lumumba, erst nach
vierzig Jahren genauer bekannt machte. Als du den Film gesehen hast, der
von Thomas Giefer, einem Kommilitonen des 1974 nach einem Hungerstreik
gestorbenen RAF- Mitglieds Holger Meins, gedreht wurde1, hast du gesagt:
Vielleicht dauert es vierzig Jahre, bis wir wissen, was am 9. Mai 1976
in Stammheim war. Gibt es neue Fakten?

Nein, die Erkenntnisse der Internationalen Untersuchungskommission, die
1979 in Paris bekanntgemacht wurden2, haben so viele Ungereimtheiten in
dem von staatlicher Seite veranlassten Todesermittlungsverfahren
offengelegt, dass es bis jetzt fast nur Bemühungen gegeben hat, diese
unter den Teppich zu kehren. Ich will sie nicht noch mal alle aufzählen,
aber Ulrike soll sich an einem Fenstergitter aufgehängt haben, das von
einer Platte aus feinmaschigem Fliegengitter bedeckt war. Polizeifotos
in den Ermittlungsakten zeigen, dass der linke Fuß noch auf einem Stuhl
abgestützt war, als sie gefunden wurde. Die Schlaufe, in der sie hing,
war so lang und so zerbrechlich, dass bei einem Sprung der Kopf hätte
rausrutschen oder der Strick hätte reißen müssen. Das Fehlen von
Blutungen in den Augenbindehäuten und ähnliche Merkmale deuteten eher
auf Fremdeinwirkung, und die Untersuchungskommission kam dann auch zu
dem Schluss, dass meine Schwester tot gewesen sein muss, als sie
aufgehängt wurde.

Wen hast du im Verdacht?

Darüber kann ich nur spekulieren. Es gab aber eine Feuertreppe, ein vom
Knastverkehr total unabhängiges Treppenhaus, das von außen bis genau
neben ihre Zelle im siebten Stock führte. So konnte man sich dort
ungesehen Zugang verschaffen.

Wie hast du von ihrem Tod erfahren, und hast du sie vor der Beisetzung
noch einmal sehen können?

Also am 9. Mai morgens um neun Uhr kam in den Nachrichten, dass Ulrike
sich umgebracht hätte, und dann bin ich sofort mit ihrem Rechtsanwalt,
Axel Azzola, nach Stammheim gefahren. Als wir ankamen, war die Leiche
schon abtransportiert worden. Gudrun Ensslin (Mitglied der RAF; sie
starb am 18.10.1977 unter bis heute ungeklärten Umständen in Einzelhaft
in Stuttgart-Stammheim, jW) hatte sie sehen wollen, aber die
Bundesanwaltschaft hat es verboten. Ich musste sie vor der Obduktion
identifizieren, ansonsten durfte ich sie nicht noch einmal sehen. Azzola
hat durchgesetzt, dass wir mit Gudrun sprechen können, die habe ich dann
zum ersten Mal gesehen. Da war sie so mitgenommen, dass sie kaum
sprechen konnte. Was wir genau gesprochen haben, weiß ich nicht mehr,
aber sie hat von ihrem letzten Gespräch mit Ulrike erzählt, am Abend
davor am Fenster, wo sie beide noch gelacht haben. Am selben Tag gab es
eine Pressekonferenz der Anwälte in Stuttgart. Da bin ich aufgestanden
und habe erzählt, dass Ulrike mir klipp und klar gesagt hat, schon als
sie noch in Köln-Ossendorf war, wenn ich im Knast umkomme, dann bin ich
umgebracht worden, ich tu mir selber nichts an. Da war sie noch in einem
toten Trakt, total isoliert.

Bundesanwalt Felix Kaul hat dann in den Medien verbreiten lassen, dass
es Spannungen zwischen den Gefangenen gegeben hätte, die »die
Chefideologin der RAF in den Tod getrieben« hätten. Den Medien wurden
Sätze aus Briefen zugespielt, die das belegen sollten.

Tatsache ist, dass Sätze verbreitet wurden, die fast ein Jahr alt waren,
aus einer Auseinandersetzung, die schwierig verlief, aber nachweislich
längst vorbei war. Gudrun sprach von einem »Konsolidierungsprozess«, der
zwischen ihnen gelaufen war. Weil die Briefauszüge aus dem Zusammenhang
gerissen und teilweise gefälscht veröffentlicht wurden, haben die
Gefangenen diese ganze Korrespondenz über ihre Anwälte freigegeben. Von
den Medien ist sie dann natürlich völlig unterschlagen worden.

Zuletzt hat Ulrike zusammen mit den anderen in Stammheim an Texten für
den Prozess gearbeitet. Als sie dort am 4. Mai 1976 die Rolle der BRD im
imperialistischen Staatensystem thematisiert haben, war Ulrike nicht im
Saal, sondern in einem Besucherraum unten im Prozessgebäude, wo sie mit
Rechtsanwalt Hans Heinz Heldmann den nächsten Beweisantrag vorbereitet
hat. Dieser Antrag zur Rolle Willy Brandts und der SPD im Vietnamkrieg
ist dann von Andreas Baader im Prozess eingebracht worden. Am 6. Mai
hatte sie mit Rechtsanwalt Michael Oberwinder, wie er sagte, »eine
scharfe Diskussion, wo Frau Meinhof den Standpunkt der Gruppe dargelegt
hat« und am 7. Mai, zwei Tage vor ihrem Tod, diskutierte sie mit dem
italienischen Anwalt Giovanni Capelli die Möglichkeit, etwas aufzubauen
für die politische Verteidigung von Gefangenen in Westeuropa.

Schon 1971, als die Fahndung nach Ulrike und den anderen noch lief,
wurden »Spannungen« in der Gruppe behauptet, um sie zu denunzieren. Sie
verkörperte ja »die Stimme der RAF«, und es gibt bis heute nicht wenige,
die sie gerne als »Verführte« darstellen, um sie »zurück ins Bürgertum
zu retten«, wie die Süddeutsche Zeitung unlängst schrieb. Dabei wird
geflissentlich vergessen, dass sie eine Kommunistin war, mit einer
langen politischen Geschichte, die bis in die fünfziger Jahre
zurückreichte. Ich denke, dass ich relativ wenig anfällig war für die
offiziellen Versionen, weil ich ein vertrautes Verhältnis zu meiner
Schwester hatte.

Wann hast du sie zuletzt lebend gesehen?

Der letzte Besuch war im März 1976. Danach, also nach ihrem Tod, habe
ich Jan Raspe, Gudrun und Andreas besuchen können, da hat sich im
Arbeitszusammenhang, zur Bildung einer internationalen
Untersuchungskommission, ein Vertrauensverhältnis entwickelt. Ich hatte
immer anderthalb Stunden Besuch, jeweils mit einem von ihnen, das waren
meistens vormittags, nachmittags und am nächsten Tag noch mal anderthalb
Stunden. Das bedeutete, dass die Gefangenen untereinander reden konnten,
was sie mit mir geredet hatten, so dass nicht alles wiederholt werden
musste (die Gefangenen in Stammheim hatten seit Anfang des Prozesses
gegen sie täglich gemeinsam Hofgang und stundenweise »Umschluss«, jW).
Und meistens war Gudrun die letzte, mit der ich sprach. Das ging dann
oft so, dass wir sagten, ihr habt schon alles geredet, sag doch mal, wie
es dir geht, und lauter solche Sachen. Wir haben uns gut verstanden. Das
war auch das Beeindruckende bei all diesen Begegnungen. Deshalb bin ich
so empfindlich gegen die lächerlichen Verzerrungen in den Medien. Du
hast einfach mit Menschen zu tun gehabt, die in der konkreten Situation
sich konkret verhalten. Das ist ungeheuer hilfreich.

Kommen wir zu den Haftbedingungen. Dein erster Knastbesuch war eine
Woche nach Ulrikes Verhaftung im Juni 1972. Hat sie dir erzählt, was
alles mit ihr angestellt worden war, bevor ihr Anwalt zu ihr gelassen wurde?

Die Besuche waren immer im Beisein von Staatsschutzbeamten. Meistens war
da der Alfred Klaus vom BKA dabei, der »Familienbulle«, der die ersten
»Psychogramme« von RAF-Mitgliedern erstellt hat. Über vieles konnte
nicht gesprochen werden, weil mit Abbruch des Besuchs gedroht wurde. Vom
Anwalt wusste ich aber, dass er erst vier Tage nach ihrer Verhaftung zu
ihr gelassen wurde, nachdem an ihr unter Androhung einer Äthernarkose
eine ganze Latte von entwürdigenden körperlichen Untersuchungen
vorgenommen worden war. Auch muss sie geschlagen worden sein, sie hatte
überall blaue Flecken. Jutta Ditfurth hat das in ihrem Buch noch mal
alles beschrieben.3

Ulrike war in Köln-Ossendorf in einem toten Trakt, das heißt in einer
auch akustisch isolierten Abteilung, ohne andere Gefangene.
Isolationshaft kannten wir schon aus der Zeit des KPD-Verbots. Von den
Kommunisten, die in den fünfziger Jahren eingesperrt waren, wussten wir,
dass sie Klopfzeichen benutzten, um miteinander von Zelle zu Zelle zu
kommunizieren. Ulrike war aber alleine im Trakt, da gab es nichts zu
klopfen. Ich habe ihr von meiner Erfahrung mit Schwerstbehinderten
erzählt, deren Isolation in dieser Gesellschaft, und dem Kampf dagegen,
weil Isolation einen Menschen so fürchterlich reduziert. Sie hat dann,
nachdem sie erst acht Monate und dann noch mal wochenweise im toten
Trakt gewesen war, diesen Text geschrieben, der mit dem Satz anfängt,
»das Gefühl, es explodiert einem der Kopf …«4, wo sie beschreibt, was
da abläuft.

Die Bundesanwaltschaft hat dann versucht, sie für ein Gutachten über
ihren Geisteszustand in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen. Als das
nicht lief, wurde eine Gehirn-Szintigrafie unter Zwangsnarkose
angeordnet, unter dem Vorwand, dass Ulrike einen Gehirntumor hätte, der
ihre Unzurechnungsfähigkeit beweisen könnte oder einen chirurgischen
Eingriff rechtfertigen würde. Was von den Medien immer wieder in einen
Gehirntumor uminterpretiert wird, ist ein harmloser Blutschwamm, der
während ihrer Schwangerschaft 1962 festgestellt und behandelt wurde.
Obwohl die Bundesanwaltschaft das genau wusste, hat sie es benutzt, um
Ulrikes Zurechnungsfähigkeit in Frage zu stellen. Die
Psychiatrisierungsversuche konnten nur durch die Mobilisierung einer
breiten Öffentlichkeit im In- und Ausland verhindert werden.

Ulrike wird immer wieder so dargestellt, als ob sie sich von anderen,
insbesondere Andreas, hat verführen und ausnutzen lassen. Dabei war sie
diejenige, die die längste politische Erfahrung hatte, eine der
beredtesten Wortführerinnen der Studentenbewegung, konsequenter als
viele aus der Zeit. Und sie hatte einen verflucht starken Charakter. In
der Illegalität und im Knast war sie identisch mit sich selbst, hat
geschrieben, gekämpft, zusammen mit den anderen. Die Klischees in den
Medien sind immer dieselben, von ihrem früheren Ehemann Klaus Rainer
Röhl und dessen Freund Stefan Aust schon vor 45 Jahren vorgestanzt, um
»die Stimme«, also die politische Identität der Gruppe, in ihr auszulöschen.

Du warst Rektorin einer Sonderschule in Hessen, hast du an deinem
Arbeitsplatz oder sonst wo nie Probleme gehabt wegen der Geschichte mit
deiner Schwester?

Doch. Die ganze Zeit von 1970 bis ’72, als Ulrike noch gesucht wurde,
bin ich permanent von der Polizei observiert worden. Wo immer ich
hinfuhr, wurde ich von der Polizei überwacht, meistens ganz offen.
Zweimal ist der Alfred Klaus vom BKA zu mir gekommen und hat verlangt,
dass ich meine Schwester treffen und sie dazu überreden sollte, dass sie
sich stellt, weil sie sonst mit Sicherheit erschossen werden würde.

Dann hatte die CDU ihren Wahlkampf in Hessen 1974 damit eröffnet, dass
sie die SPD wegen deren Schulreform angegriffen hat, wobei das
schlimmste Beispiel die Schwester von Ulrike Meinhof sei. Nun war ich
nicht in der SPD, von daher war es egal. Aber es war klar, sie wollten
der Landesregierung anhängen, dass ich mich in meiner Schule halten
kann, und das hat sich die ganzen Jahre so durchgezogen. Es ging
natürlich auch um meine politischen Stellungnahmen. Ich war eine Linke,
habe in bezug auf die Behindertenpädagogik eine fundamentale
Gesellschaftskritik formuliert, auch bundesweit, aber ich war auch
solidarisch mit meiner Schwester, habe mich nicht von ihr distanziert.

Ich bin während des Hungerstreiks der Gefangenen 1974 einmal verhaftet
worden im Rahmen der Komiteearbeit. Das kam nachher durchs Fernsehen,
und da war der Elternratsvorsitzende, ein Gleisbauarbeiter, eine halbe
Stunde später bei mir zu Hause, um nachzusehen, wie es mir geht, und hat
eine Elternversammlung einberufen, wo die Eltern gesagt haben, so geht
man nicht mit unserer Rektorin um. Also da war was, ein Stück
Solidarität, das war den Schulbehörden natürlich ebenfalls ein Dorn im
Auge. Ich habe mich schließlich vorzeitig pensionieren lassen, das ist
dann auch akzeptiert worden. Die waren froh, mich loszuwerden.

Nach der Pressekonferenz der Internationalen Untersuchungskommission in
Paris 1979 durfte ich bis 1992 auch keine Besuche bei Gefangenen mehr
machen, weil ich die »Sicherheit und Ordnung der Anstalt« gefährde.

Wie hast du mit Ulrike über die jeweiligen politischen Entwicklungen
diskutiert? Hast du die Entscheidungsmomente zur RAF irgendwie mitbekommen?

Ulrike und ich haben jede eine eigene linke Geschichte, wobei wir sehr
viel Austausch auch miteinander gehabt haben. Also sie hat zum Beispiel
zu Hilfsschulkindern gearbeitet, und ist dafür in der Schule gewesen, in
der ich gearbeitet habe. Sie hat viel dazu beigetragen, dass ich die
ganzen Bücher der Pädagogen der zwanziger Jahre bekam, weil es die
damals nur als Raubdrucke gab und sie die besorgen konnte. Wir haben uns
beide in der Bewegung gegen die Wiederbewaffnung (landesweite Proteste
gegen die Wiedereinführung militärischer Strukturen in der BRD in den
1950er Jahren, jW) politisiert, waren an der Gründung der Deutschen
Friedens­union beteiligt, als Versuch, ein breites linkes Bündnis zu
bilden. Ulrike ist dann noch fünf Jahre Mitglied der illegalen KPD
gewesen. Danach radikalisierte sich der Sozialistische Deutsche
Studentenbund, SDS, und bildete sich die APO, die außerparlamentarische
Opposition der sechziger Jahre.

Ulrike hatte ihr Studium abgebrochen, um sich ganz der journalistischen
Arbeit zu widmen, also hauptsächlich in der Redaktion von Konkret, aber
daneben für andere Blätter, Rundfunk und Fernsehen. Sie war eine der
wichtigsten Stimmen im Aufbruch der Studentenbewegung. Um ihre gründlich
recherchierten Hintergrundartikel rissen sich alle. Wenn wir Schwestern
uns sahen, sprachen wir über unsere Kinder, aber auch über die
innenpolitische Lage, die Befreiungsbewegungen, Vietnam. Im Februar 1968
fand der Internationale Vietnamkongress statt. Ulrike war vier Tage
zuvor nach Berlin umgezogen. Im Oktober lief dann der Prozess wegen der
Frankfurter Kaufhausbrände, wo sie Andreas und Gudrun kennenlernte. Sie
hat mir erzählt, wie sehr sie von ihren politischen Vorstellungen
beeindruckt war. Mit Konkret hatte sie schon nicht mehr viel am Hut, wie
sie auch in einem ihrer letzten Artikel unter dem Titel »Kolumnismus«5
zum Ausdruck gebracht hat. Sie hat noch an dem Film »Bambule«
gearbeitet, hat in einer Stadtteilgruppe im Berliner Märkischen Viertel
mitgemacht, hat vor allem international wichtige Diskussionen geführt.

Ich wusste nicht, dass Ulrike an dem Versuch beteiligt war, Andreas
Baader zu befreien. Sie hatte mir aber erzählt, dass er festgenommen
war, dass er irgendwie wieder aus dem Knast raus musste. Sie ist vier
Wochen bevor sie untergetaucht ist, bei mir gewesen, um sich zu
vergewissern, dass ich mich um ihre Kinder kümmere, falls etwas
passiert. Als dann durch die Nachrichten kam, dass Andreas befreit war,
war für mich klar, dass sie etwas damit zu tun hatte. Da war sie noch
gar nicht in den Nachrichten, aber ich bin sofort nach Hause gefahren,
damit ich die Kinder nehmen kann. Das mit den Kindern ist letztlich
anders gelaufen. Aber ihre Entscheidung stand dann jedenfalls fest.
Selbst hat sie den Schritt später damit begründet, dass für sie
»politische Opposition und Illegalität identisch geworden sind«.

Anmerkungen

1 Thomas Giefer: Mord im Kolonialstil. Reihe Assassinats Politiques,
L’Harmattan, Paris 2008

2 »Der Tod Ulrike Meinhofs« Bericht der Internationalen
Untersuchungskommission, www.socialhistoryportal.org/raf/5520

3 Jutta Ditfurth: Ulrike Meinhof. Die Biographie. Ullstein Verlag,
Berlin 2007

4 Ulrike Meinhof, »Zu den Wirkungen des toten Trakts«,
www.socialhistoryportal.org/raf/text/307155

5 In: Ulrike Marie Meinhof: Die Würde des Menschen ist antastbar. Verlag
Klaus Wagenbach, Berlin 1980